Ulrich Wickert

Artikel über mich

„Als Kind habe ich Schundhefte gelesen“

19.12.2019, welt.de

Er war Mister Tagesthemen, er ist frankophil – und wie alle Autoren ist Ulrich Wickert auch ein großer Leser. Die Liste der Bücher, die ihn geprägt haben, hält allerdings einige Überraschungen bereit.

Ulrich Wickert gegenüberzustehen bedeutet für in den Achtziger- und Neunzigerjahren sozialisierte eine Art mémoire involontaire zu erleben: So sehr ist der Journalist mit den „Tagesthemen“, dem Fernseher im elterlichen Wohnzimmer verbunden, einer Kindheitswelt, die, auch wenn sie nicht im biederen Generation-Golf-Ambiente verlief, eine Achtziger-Neunziger-Welt war, mit Wickerts sonorem „Guten Abend, meine Damen und Herrn“ am Anfang und schillernder, halb onkeliger, halb spöttischer „geruhsamer Nacht“ am Ende.

Zu den Büchern, die Ulrich Wickert, der früh Frankreich für sich entdeckt hat und bis heute teilweise dort lebt, zu den für ihn wichtigsten zählt, gehört neben Kinderbüchern und Krimis (beide schreibt er auch selbst) vor allem französische Literatur. Frankreich habe eine anderes Gefühl für die eigene Identität als Deutschland, sagt Wickert – ein Thema, das er in seinem kürzlich erschienenen Buch „Identifiziert euch!“ aufgreift.

Enid Blyton: Das Tal der Abenteuer

Als Kind habe ich – sehr zum Entsetzen meiner Eltern – Schundhefte gelesen. Und zwar die von Pete, gesprochen Peete. Er lebte im Wilden Westen und war ein Junge, der die abenteuerlichsten Geschichten erlebte. Peete war ganz aufregend für mich – und natürlich hieß er eigentlich Pete, aber ich konnte ja noch kein Englisch. „Pipi Langstrumpf“ habe ich verschlungen. Obwohl es ja damals als Mädchenbuch galt. Und ganz wichtig warn für mich: Enid Blytons Abenteuerbücher, „Das Tal der Abenteuer“ und andere. Ich habe mir die Bücher immer ausgeliehen: im Amerikahaus in Heidelberg.

Raymond Chandler: The Big Sleep

Ich habe in Amerika studiert, und da gab es für mich ein paar Entdeckungen: Raymond Chandler zum Beispiel, die Romane und Erzählungen. Philip Marlowe ist für mich eine ganz wichtige Figur der Kriminalliteratur. Weil ich Chandler so toll fand, wollte ich immer selbst Krimis schreiben, habe mich aber lange nie richtig getraut. Eine Idee reicht eben nicht, man braucht auch einen Plot.

Als ich in Paris als Korrespondent lebte, fiel mir ein Dokument in die Hände, was alles änderte, und ich setzte mich an den Krimi mit einem Unterschungsrichter als Hauptfigur – er spielt ja auch bei politischer Korruption eine zentrale Rolle. Wenn man politischer Journalist ist, sollten doch auch die eigenen Figuren aus der Wirklichkeit kommen. Darauf hat mich Chandler gebracht.

Sinclair Lewis: Main Street

In Amerika habe ich auch Sinclair Lewis für mich entdeckt, vor allem „Main Street“. Er hat mich fasziniert, weil er über das normale Aerika schreibt. „It can’t happen here“, das Buch über den Faschismus, hat er 1935 geschrieben – und es ist genau die aktuelle Geschichte: Ein Populist verspricht „I’m making America great again“. Die ganze Nüchternheit, wie Lewis beschreibt, wie der Faschismus nach Amerika kommt, hat mich sehr beschäftigt. Lewis war lange in Vergessenheit geraten, das ist nun anders.

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch

Das Buch habe ich Mitte der 70er gelesen, also zehn Jahre nach allen anderen. Ich las Marcuse im Urlaub und war von dieser Utopie der neuen Gesellschaft begeistert. Zurück aus dem Urlaub traf ich im Sender zufällig einen Kollegen, der gerade auf dem Weg zum Interview mit Marcuse war. Damals rauchte man im Studio noch. Ich bin dann zu Marcuse hin und hab ihm gesagt, dass ich einen Dokumentarfilm über ihn machen wollte. Er antwortete, er werde sich melden.

Ich las und las. Und er meldete sich nicht. Ich kannte vage Jürgen Habermas und rief ihn an. Ja ja, sagt er, Marcuse ist am Wissenschaftskolleg in Berlin. Marcuse wimmelte mich ab. Aber dann traf ich ihn bei einem Abendessen, und wir verabredeten den Film. Den drehte ich sofort, als ich kurz darauf nach Washington versetzt wurde. Er wurde in der ARD gesendet – heute fragt man sich, ob solche Filme überhaupt noch gesendet würden.

Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre

Ich habe diese Bücher mindestens zwei oder drei Mal gelesen, ich habe unglaublich viel über Politik, Geschichte und Frankreich gelernt. Das ist wirklich eines der wichtigsten Bücher für mich überhaupt. Wenn man sich vorstellt, was dieser Henri Quatre gemacht hat! Für die Franzosen ist er heute noch der beliebteste König. Er hat Frankreich eigentlich zu dem gemacht, was es heute ist; durch ihn konnte es diese starke Nation werden.

Fernand Braudel: L’identité de la France

Als ich Korrespondent in Paris war, habe ich sehr viel durch dieses Buch gelernt – gerade darüber, wie sich deutsche und französische Familienstrukturen soziologisch unterscheiden, die französische Großfamilie im Gegensatz zur deutschen Kleinfamilie. Die Großfamilie ist ein wichtiger Faktor in der französischen Soziologie und in der nationalen Politik, der Gedanke des Netzwerks der Familie als Kommunikationsgruppe. Auch darüber habe ich einen Dokumentarfilm gemacht. Braudel beschreibt das, was eine nationale Identität ist – unpolitisch, nicht recht oder links.

Knut Hamsun: Victoria

Hamsuns „Hunger“ ist ein wichtiges Buch für mich in der Jugend gewesen, auch „Victoria“, das ja eigentlich ein Schmachtroman ist. Erst sehr viel später kam die Diskussion auf, inwiefern Hamsun ein überzeugter Nazi war – in seinen Büchern kommt das für mich nicht raus.

René Goscinny: Asterix

Asterix hat mich über die Jahrzehnte begleitet, aber auf Französisch – das Buch ist so sehr mit der Gesellschaft verwoben, ihren Fragen und Hoffnungen, bestimmte Sprachspiele funktionieren wirklich nur auf Französisch. Ich ging ja eine Zeit lang in Frankreich zur Schule, wir mussten Teile von „Le Cid“ auswendig lernen – das Verhältnis zur Sprache ist in Frankreich ein anderes als in Deutschland.

Günter Grass: Die Blechtrommel

Als ich den Roman las, war ich nicht mal 20. Ich habe dann Grass Ende der 70er-Jahre kennengelernt, kurioserweise in Peking. Mein Vater war auf Posten in Peking und hatte Grass eingeladen. Als die „Blechtrommel“ 25 wurde, habe ich ein längeres Gespräch mit ihm geführt, als sie 50 wurde ebenso. Wir haben uns angefreundet. Dann hat er mir „Beim Häuten der Zwiebel“ gegeben. Er hatte ja nie verschwiegen, dass er im Dritten Reich begeisterter Anhänger war und U-Bootfahrer werden wollte.

Für mich zeigt das Buch die Verführbarkeit und Verführung eines jungen Menschen. Er wurde zur Waffen-SS eingezogen, er hat sich nicht freiwillig gemeldet. Dann tat die „FAZ“ so, als habe sie das aufgedeckt – dadurch wurde die Sache skandalisiert, auch wenn ja alles im Buch steht. Für mich ist er ein großer Schriftsteller gewesen und ein guter Freund.

Protokoll: Mara Delius