Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Auschwitz ist zu oft Bezugspunkt“

09.02.2013, Die Welt

Ulrich Wickert spricht mit Eva Menasse über ihren neuen Roman „Quasikristalle“, den Antisemitismus und das Leben in Berlin

Ulrich Wickert: In den Ornamenten, die Moscheen ausschmücken, gibt es symmetrische Muster, die sich in der Natur wiederfinden: „Quasikristalle“. Ihr Entdecker Dan Shechtman erhielt 2011 den Chemie-Nobelpreis. Und „Quasikristalle“ ist der Titel des neuen Romans von Eva Menasse. Weshalb?

Eva Menasse: Der Titel ist eigentlich nur eine Metapher. Ich stehe da in einer schönen Tradition, die bis Goethe zurückreicht. Als er seinen „Wahlverwandtschaften“ diesen Titel gab, war das auch ein Begriff aus der damaligen Chemie. Offenbar eignen sich Begriffe aus der Naturwissenschaft manchmal als Metaphern für Literatur. In diesem Fall schien es ebenfalls naheliegend. Der Quasikristall ist ein Kristall mit nichtsymmetrischen Mustern. Trotzdem ist er ein Kristall. Er eignet sich für die Beschichtung von Bratpfannen oder auch für die Scherfolien von elektrischen Rasierapparaten.

Ulrich Wickert: Und warum ist das eine Metapher für Ihr Buch?

Eva Menasse: Das Buch beschreibt die Biografie einer Frau in 13 Kapiteln und aus 13 verschiedenen Perspektiven. Meine Idee war, zu zeigen, in wie viele verschiedene Rolle man innerhalb eines Lebens zerfällt und dass man eine Biografie nicht vorausberechnen kann.

Einmal gibt es auch die Sicht von ihrer Heldin Xane selbst, da ist sie 14, lebt in einer verwunschenen Villa und erinnert sehr an Pippi Langstrumpf.

Ulrich Wickert: Ich habe als Kind wahnsinnig gern Pippi-Langstrumpf-Filme gesehen und die Bücher gelesen. Vielleicht führen sich alle Frauen, die ehrgeizig sind und was geschafft haben im Leben, irgendwann auf Pippi Langstrumpf zurück. Pippi Langstrumpf ist cool, weil sie nicht so ein Mädchen ist wie die anderen, weil sie diese nicht zusammenpassenden Socken trägt und die Pferde mit einer Hand in die Höhe hebt. Das wäre eigentlich mal ein interessantes Thema, warum die Pippi-Langstrumpf-Figur das Frauenbild der so genannten emanzipierten Frau geprägt hat.

Eva Menasse: Weil sie unabhängig ist! Sie hat Gott sei Dank diese Kiste mit Geld. Sie entscheidet für sich selbst. Das findet man auch bei Xane. Sie ist eine selbstständige, selbstbewusste Person, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt.

Aber im ersten Kapitel ist sie am Ende dann die Verliererin, weil sie Entscheidungen trifft, zu denen sie nicht steht, und ihre beste Freundin verliert.

Ulrich Wickert: Ist man ein Verlierer, wenn man eine Entscheidung zurücknimmt?

Eva Menasse: Wenn man sich für etwas entscheiden hat, das man dann gar nicht mehr will, ja.

Ulrich Wickert: Xane hat ein Klavier. Sind Sie selbst musikalisch begabt?

Eva Menasse: Ich glaube schon. Aber das Klavier ist eine Art Waterloo meiner Jugend. Ich wollte unbedingt Klavier spielen. Wir hatten aber keins. Meine Mutter fand, dass sei zu teuer und wir hätten keinen Platz. Ich musste dann klassische Gitarre spielen. Das hab ich widerstrebend gemacht. Ich habe dann jedenfalls viel zu spät mit dem Klavier begonnen – behaupte ich heute. Ich bilde mir ein, ich könnte besser Klavier spielen, wenn ich früher begonnen hätte. Aber wahrscheinlich ist das Quatsch. Mein Talent hat fürs Klavier nicht gereicht, aber irgendwie grundlegend musikalisch bin ich, denke ich, schon.

Ulrich Wickert: Reicht es zum Singen? Vor gar nicht so langer Zeit haben Sie angefangen Gesangsstunden zu nehmen.

Eva Menasse: Ja, aber das ist auch nur ein privates Hobby, das ich beinahe als Psychotherapie betrachte. Singen hat etwas Ganzheitliches, hat was mit Atmen und mit Schwingen und sehr viel weniger mit Denken zu tun. Komischerweise habe ich beim Gesangsunterricht auch viel über das Schreiben gelernt: Nämlich dass es einen Moment gibt, an dem man aus sich heraustritt, und dass das der Moment ist, wo die Dinge gelingen. Wenn ich beim Singen vor den Noten stehe und meine Augen immer meiner Gesangslinie folgen, singe ich meistens ziemlich schlecht. Wenn ich mir erlaube, das Notenbuch zuzuklappen und einfach so zu singen, geht’s besser. Noch besser läuft es, wenn ich ein kleines Bisschen, so zu fünf Prozent, an etwas anderes denke. 95 Prozent konzentrieren sich auf das Singen, und die anderen fünf machen etwas anderes. Dann geht es. Auch beim Schreiben. Es gibt einen Zusammenhang von Kontrolle und Loslassen. Wenn das in einem richtigen Modus funktioniert, kommt es zum berühmten kreativen Funken. Da kommen plötzlich irgendwelche Dinge von außen in das Schreiben hinein, die mir vorher nicht bewusst waren.

Ulrich Wickert: Wie ist Ihr Arbeitsrhythmus?

Eva Menasse: Schrecklich. Ich bin in der Beziehung so pedantisch wie Thomas Mann. Da ich Kinder habe, muss ich in der Zeit arbeiten, in der die sich im Unterricht befinden. Also schreibe ich – ich habe mir das schon mit meinem Buch davor angewöhnt – jeden Tag in der Berliner Staatsbibliothek, ab fünf vor neun Uhr morgens.

Ulrich Wickert: Sie sind mit dem Schriftsteller Michael Kumpfmüller verheiratet. Reden Sie auch über Handwerkliches?

Eva Menasse: Wir sind jeweils unsere ersten Leser. Das ist nicht immer unkompliziert. Schreiben ist ja etwas sehr Persönliches. Man gibt etwas von sich preis, auf eine wie auch immer gebrochene Weise. Wenn der Lebenspartner das nicht gut findet, denkt man leicht, man selbst werde abgelehnt und nicht nur der Text. Aber wir haben das jetzt ganz gut geklärt. Es ist ja zum Glück auch so, dass wir beide – auf ganz unterschiedliche Weise, aber doch vergleichbar – mit unseren Büchern durchkommen und ein Einkommen haben und vergleichbar erfolgreich sind. Wenn das sehr unterschiedlich wäre, wenn einer von uns ein apokrypher Lyriker und der andere ein Bestsellerautor wäre, hätten wir es vielleicht schwerer. Darüber mag ich gar nicht nachdenken. Es ist, wie es ist, und ich bin auch sehr dankbar dafür. Denn diese komischen psychischen Phasen, in die man beim Romane Schreiben gerät, versteht halt dann niemand besser als ein Kollege.

Ulrich Wickert: Was für Phasen meinen Sie?

Eva Menasse: Es ist manchmal ein sehr auffressender Beruf. Wenn man mitten in so einer heftigen Schreibphase ist, bohrt man sich ja in Schichten vor, die so tief in einem drin sind oder in dem, was man immer schon gedacht hat, dass man für den Alltag teilweise nicht mehr empfänglich ist. Mein Mann neigt dann dazu, irrsinnig viele Dinge zu verlegen und zu verlieren. Ich bin auf eine andere Weise unaufmerksam, die ich natürlich selber nicht so gut beschreiben kann.

Ulrich Wickert: Wenn Sie den Schreibtisch in der Bibliothek verlassen, geht wahrscheinlich die Geschichte im Kopf den ganzen Tag weiter. Und wenn Sie ins Bett gehen, denken Sie wohl immer noch darüber nach. Das heißt, wenn man an einem Buch arbeitet, konzentriert sich unglaublich auf das, was in einem selbst stattfindet, und hat deswegen weniger Zeit für die anderen.

Eva Menasse: Ja. Aber Kinder sind ein gutes Korrektiv. Denn die holen einen gnadenlos raus aus allen Selbstverstrickungen. Das tut einen dann wirklich sehr gut, weil es einen wieder erdet.

Ulrich Wickert: Sie haben zusammen mit Ihrem Mann am Lübecker Literaturtreffen teilgenommen, das Günter Grass organisiert.

Eva Menasse: Schon zum siebten Mal. Zusammen mit Thomas Brussig, Benjamin Lebert, Juli Zeh, um nur diese zu nennen. Diese Treffen werden gern mit der Gruppe 47 verglichen, aber das führt in die Irre. Bei den Treffen der Gruppe 47 waren viel mehr Autoren zugegen, und es hat den einladenden Hans Werner Richter gegeben, der alles bestimmte. Bei uns ist das ein bisschen basisdemokratisch, was dann manchmal nicht gut ist, weil man sich nicht einigen kann, wer eingeladen werden soll. Dann sind wir natürlich finanziell begrenzt, weil wir nicht so viele Plätze zu vergeben haben. Auch sind keine Kritiker zugelassen. Das ist wunderbar, denn auf diese Weise kommt es zu einer sehr intimen und dadurch sehr verständnisvollen und unpolemischen Arbeitsatmosphäre.

Ulrich Wickert: Die Polemik war bei der Gruppe 47 entsetzlich. Bezieht sich Kollegen-Kritik bei den Lübecker Treffen rein aufs Handwerkliche?

Eva Menasse: Ja. Es kommt auch vor, dass ein Kollege dem anderen anbietet, seinen Text zu redigieren oder zu lektorieren. Und wir haben mit Dagmar Leupold, die einige Male teilgenommen hat, eine Kollegin, die auch unterrichtet und vom Theoretischen, Literaturanalytischen, Germanistischen her Rüstzeug mitbringt. Das ist alles wahnsinnig angenehm und friedlich.

Ulrich Wickert: Sie haben beim 85. Geburtstag von Günter Grass sein Israel-Gedicht als einen Fehler bezeichnet. Was war der Fehler?

Eva Menasse: Der Fehler besteht in der Stoßrichtung. Ich habe in einer Korrespondenz mit Günter Grass dieses Gedicht vielleicht genauso unzulässig verkürzt, wie er den Israelkonflikt verkürzt, indem ich gesagt habe: Das Gedicht ist so ähnlich, als würde man eine Beschreibung des Zweiten Weltkriegs mit der Bombardierung von Dresden beginnen. Es setzt an einem für mich exzentrischen Punkt an, um es vorsichtig zu sagen, weil es nur davon redet, dass Israel damit droht, den Iran zu bombardieren. Aber der ganze Nahostkonflikt ist ein so hochkomplexes Thema, dass man das bestimmt nicht in einem so kurzen Gedicht und schon gar von deutschem Boden aus rügend in Richtung Israel abhandeln kann. Das hat aber, glaube ich, meiner kollegialen Freundschaft zu Günter Grass keinen Abbruch getan.

Ulrich Wickert: Er hat Sie hinterher umarmt. Sie sprachen in der Geburtstagsrede, von dem „Post-Auschwitz-Ethik-Schwall“. Was meint das?

Eva Menasse: Es gibt in der deutschen Politik eine Tendenz, die ich übrigens sehr gut verstehen kann, jede große ethische und moralische Entscheidung auf Auschwitz zurückzuführen. Was kann uns Auschwitz lehren, wenn wir über Israel sprechen? Was lehrt es uns, wenn wir über Präimplantationsdiagnostik sprechen? Was lehrt es uns, wenn wir Gewalttäter frühzeitig freilassen wollen? Auschwitz ist ein Bezugspunkt in allen möglichen moralisch-ethischen Fragen. Aber das ist nicht gut und führt oft in die Irre.

Ulrich Wickert: Bei uns hält sich in der Frage der Organspenden der Staat raus wegen der Menschenversuche in Auschwitz. Dieses „Aber in Auschwitz haben wir, deswegen dürfen wir nicht“ beeinflusst auch die Stammzellenforschung.

Eva Menasse: Genau. Man kann Auschwitz für fast alles vereinnahmen. Es gibt die Friedensmarschierer und die Ostermärsche, die sich auf Auschwitz beziehen. Aber auch Außenminister Joschka Fischer berief sich auf Auschwitz, als es darum ging, die Serben im Kosovo zu bombardieren. So sollte man grundsätzlich nicht denken. Das ist zu einfach und banalisiert die Zusammenhänge.

Ulrich Wickert: Und dann wird auch schnell der Vorwurf des Antisemitismus erhoben. Grass wurde vorgeworfen, er sei Antisemit. Jakob Augstein wird vorgeworfen, er sei Antisemit. Stéphane Hessel kommt aus einer jüdischen Familie, kämpfte in der Résistance gegen die Deutschen und kam nach Buchenwald. Weil er sagt, die Menschenrechte gelten auch für Palästinenser,, hat man ihm vorgeworfen: „Sie waren als politischer Gefangener und nicht als Jude im KZ.“ Das ist doch absurd.

Eva Menasse: Das ist absurd und führt zu einer Entwertung des Begriffs Antisemit. Ich habe schon mal im Scherz vorgeschlagen, wir sollten uns in Deutschland alle mal einen Tag lang ein T-Shirt anziehen, auf dem steht „Ich bin Antisemit“. Dann kann man vielleicht zu vernünftigeren Diskussionen übergehen. Es gibt ja wirklich Antisemiten. Es gibt auch gewaltbereite Neonazis. Es nützt aber wenig, wenn man sie des Antisemitismus bezichtigt. Man könnte sie aber festnehmen wegen ihrer Gewalttätigkeit. Man braucht deswegen auch keine eigene Gesetzgebung. Aber das sind alles sehr komplizierte Themen, die natürlich in Deutschland auch noch mal einen Tick komplizierter sind.

Ulrich Wickert: Sie sind Österreicherin, leben aber seit einigen Jahren in Berlin. Ihr Roman spielt teils in Wien, teils in Berlin. Würden Sie sich noch als Österreicherin bezeichnen?

Eva Menasse: Das wird immer schwieriger mit den Jahren. Ich sage oft im Scherz, ich bin in Deutschland im politischen Asyl. Und es gibt den Spruch eines Kollegen von mir, der mir sehr gefällt, des Autors Christian Ankowitsch, der kürzlich in einer Dokumentation im österreichischen Fernsehen sagte: „Es gibt keinen Ort, wo man als Österreicher so gut Österreicher sein kann wie in Deutschland.“ Das ist richtig. Die Deutschen sind uns immer sehr gewogen, finden unseren Akzent charmant und haben meistens schöne Urlaubserinnerungen an Österreich. Ich habe da ein schlechtes Gewissen, denn der „Piefke-Hass“ ist in Österreich verbreitet wie eh und je. Es ist eine sehr einseitige Liebe der Deutschen zu den Österreichern. Mit meiner Identität ist es schwierig. Ich könnte nicht mehr in Wien leben. Ich wollte schon mit 20 weg. Es war mir zu klein und zu eng. Ich liebe Österreich, und es gibt viele Dinge, die wunderbar sind, das Essen, der Wein, der Humor – manchmal. Trotzdem wollte ich die Welt sehen. Dass ich es nun nur nach Deutschland geschafft habe, ist gewissermaßen auch wieder ein Pech. Aber ich fühle mich inzwischen Deutschland sehr verbunden. Es ist zum Leben ein wahnsinnig angenehmes Land.

Ulrich Wickert: Wie stehen Sie zu Hymnen?

Eva Menasse: Nostalgisch. Ich darf bei Länderspielen, bei denen Österreich oder Deutschland mitspielen, nie diesen Moment versäumen, wo die Hymnen gespielt werden. Ich mag das. Ich habe da eine ganz sentimentale Ader, vielleicht, weil man als Österreicher auch ungebrochener seine Hymne gesungen hat. Als Kinder konnten wir alle drei Strophen. Ich weiß schon, dass Hymnen problematisch sind, aber ich habe trotzdem eine Hymnenader.

Ulrich Wickert: Wenn Deutschland gegen Österreich spielt, für wen sind Sie?

Eva Menasse: Für Österreich, weil man doch für den Schwächeren sein muss und weil mich mein Vater sonst köpfen würde.

Ulrich Wickert: Sie sind von der Herkunft her Journalistin. Hilft Ihnen das, wenn Sie Romane schreiben?

Eva Menasse: Ich habe für „Quasikristalle“ nicht groß journalistisch recherchiert. Man lernt mit der Zeit, Romane zu schreiben. Man kann das nicht gleich. Bestimmte Fakten und Zusammenhänge müssen natürlich stimmen. Die wunderbare Autorin Katja Lange-Müller sagt: „Ein Schriftsteller rechnet hoch.“ Das ist ein Talent, das man haben muss. Das bedeutet, dass man nur ein kleines Stück von einem Detail oder von einer Geschichte umklammern muss, um den Rest erstehen zu lassen, den Rest in einem sprachlichen Raum zu erschaffen, wo die Atmosphäre stimmt. Da schadet heftiges journalistisches Recherchieren eher, weil es einen überfrachtet.

Ulrich Wickert: Sie schaffen es, für Ihre Xane eine Atmosphäre zu schaffen, in der wir eine Person entstehen sehen.

Eva Menasse: Es wäre schön, wenn ich das geschafft hätte, denn das ist für mich die große Kunst, dass man mit wenigen Strichen einen Menschen sehen oder spüren kann und ahnt, wie er reagieren wird, ohne dass alles ausgeschrieben ist. Das unterscheidet auch Literatur von Unterhaltungsliteratur: der Mut zur Lücke. Unterhaltungsliteratur ist Malen nach Zahlen. Da ist alles ausgefabelt und bis ins Letzte erklärt. Darüber denke ich handwerklich dauernd nach: Wie viel kann ich weglassen, und der Leser folgt mir trotzdem in die Richtung, in der ich ihn haben will?

Eva Menasse zählt seit ihrem Romandebüt „Vienna“ von 2003 zu den bemerkenswertesten deutschsprachigen Erzählerinnen der Gegenwart. Am 14. Februar erscheint ihr neuer Roman „Quasikristalle“ bei Kiepenheuer & Witsch (432 S., 19,99). Das ganze Gespräch mit ihr können Sie morgen auf NDR Kultur um 13 Uhr in „Wickerts Bücher“ hören.