Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Damals konnte man alles“

06.07.2013, Die Welt

Von Berlin aus in die Neue Welt: Ulrich Wickert im Gespräch mit dem Schauspieler und Autor Hanns Zischler

Ulrich Wickert: Sie stammen aus Süddeutschland. Was hat Sie nach Berlin gelockt?

Hanns Zischler: Das Angebot eines damals – wie ich – jungen Schriftstellers, Uwe Brandner, beim Literarischen Colloquium in einem Film mitzuwirken. Ein seltsam anmutender Spielfilm, der heute vielleicht von historischem Interesse nur deshalb ist, weil viele Berliner Schriftsteller darin vorkommen, die man nur noch dem Namen nach kennt. Ich war kein Schriftsteller. Ich war nur ein etwas melancholisch anmutender Mann mit nicht zu langen Haaren und langen dunklen Mänteln und Anzügen.

Ulrich Wickert: Wie kam Brandner auf Sie?

Hanns Zischler: Ich hatte in München 1967 bei der ersten Klasse der neu gegründeten Filmhochschule mitgewirkt. Günther Kaufmann war damals dabei, Christine Kaufmann, Günther Ungeheuer. Diese ersten Filme waren merkwürdigerweise – ganz anders übrigens als in Berlin zur selben Zeit – eigentlich immer nur Hommagen an das amerikanische Kino. Es waren Appetizer.

Ulrich Wickert: Sie haben dann in Berlin weiter studiert?

Hanns Zischler: Ich habe Studien betrieben in dem Sinne, dass ich Seminare besucht und Vorlesungen gehört habe. Ich bin sehr froh, dass ich den Literaturwissenschaftler Peter Szondi gehört habe, Derrida in Berlin oder den Ethnologen Lawrence Krader. Es ist ein Fundus zurückgeblieben, der mich bis heute begleitet.

Ulrich Wickert: Sind Sie jetzt ein Berliner?

Hanns Zischler: Ja. Ich habe aber auch immer noch eine starke Neigung zum Süden. Ich bin Berliner in dem gespaltenen Sinn, wie man nur Berliner sein kann. Ich bin als West-Berliner geprägt worden. Ich bin dann in ein neues Berlin gekommen und musste eigentlich zum ersten Mal eine Erfahrung machen, die es sonst nicht gibt. In Deutschland hatte eine Wiedervereinigung stattgefunden – allenthalben. Aber eine tatsächlich topografische Wiedervereinigung hat es ja eigentlich nur in Berlin gegeben, das ist ein sehr experimenteller Vorgang.

Ulrich Wickert: „Berlin ist zu groß für Berlin“ – was wollen Sie damit sagen?

Hanns Zischler: Diese Stadt leidet an einem Widerspruch. Sie hat früh, im 18., 19. Jahrhundert, einen Ausdehnungshunger entwickelt um den Preis ihrer Verdichtung. Eine Doppelbewegung: eine Abrisslust, die sich seit dem Barock in einem Wiederholungszwang manifestiert, und gleichzeitig der Wille, eine bestimmte Größe zu erreichen.

Ulrich Wickert: Sie vergleichen Berlin mit anderen Metropolen und beklagen, dass der deutschen Hauptstadt schöne Plätze fehlen.

Hanns Zischler: Es gibt natürlich gelungene Plätze in Berlin, die vor allem in den Zehner- und Zwanzigerjahren angelegt wurden von Erwin Barth, Schmuckplätze, aber die sind eher abgelegen. Daneben gibt es misslungene oder nicht zu Ende gedachte Plätze: Alexanderplatz, Theodor-Heuss-Platz, den scheußlichen Olivaer Platz. Ich glaube, einer der Gründe, warum diese Plätze misslungen sind, ist, dass Großberlin als Verwaltungsstadt, als künstliche Zusammenfügung verschiedener kleinerer oder größerer Städte wie Charlottenburg, keine Oberhoheit bei der Planung hatte.

Ulrich Wickert: Wie ein Baron Haussmann in Paris

Hanns Zischler: Berlin leidet bis heute an einer sehr speziellen, schwierigen Topografie. Die Stadt hat sich zu schnell ausgedehnt. Straßen kann man immer anlegen, aber Straßenverbindungen, die mehr sind als Straßenzusammenstöße, hatten das Nachsehen. Deshalb kommt es zu solchen Merkwürdigkeiten wie der durchaus gelungenen Stalinallee- oder Frankfurter-Allee-Anlage von Henselmann, die plötzlich aufhört, weil der Alexanderplatz keine Verbindung zu ihr darstellt. In der Physik nennt man das Fortpflanzungsfehler.

Ulrich Wickert: Sie haben vom Abreißen gesprochen. Jetzt wird das Schloss wieder aufgebaut. Was halten Sie davon?

Hanns Zischler: Das ist eine Zangengeburt. Das Schloss war, historisch gesehen, ein sehr unbeliebtes Gebäude, die Könige haben nur kurz dort gewohnt, von den Berlinern wurde es wenig geliebt. Und wenn man diesen leeren und zersprengten Raum, der schon entstellt ist durch den neuen Dom, wieder füllen will – und das kann man durchaus machen –, dann sollte man einfach darüber nachgedacht haben, was man denn dort haben will. Ein Schloss kann man ja nicht wollen, sondern etwas, das funktional zum Stadtraum passt.

Ulrich Wickert: Man hat in Berlin manchmal das schreckliche Gefühl, es bestimmt das Bauamt und nicht Leute mit größeren Konzepten.

Hanns Zischler: Einige sehr interessante historische Konzepte, die ab 1910 entwickelt worden sind, wären angemessen gewesen, die Stadt besser in den Griff zu bekommen. Seltsamerweise hat sich immer die schlechtere Lösung durchgesetzt. Vielleicht ist es auch eine bestimmte Art von Bürokratie, die da obsiegt gegen kühnere Ideen. Gut, das Problem haben andere Städte auch. In Berlin wird es nur merkwürdig deutlich sichtbar, weil diese Stadt sich eben auch selbst so stark zerstört hat und zerstört worden ist.

Ulrich Wickert: Laufen ist das Schönste, um eine Stadt kennenzulernen, aber Berlin ist so weit.

Hanns Zischler: Wenn man Berlin als Spaziergänger durchquert, kann man das nur in Etappen machen. Das heißt, man kann dann mal zehn Kilometer mit der S-Bahn weiterfahren, ein Wäldchen hinter sich lassen oder einen See, und dann kommt wieder der nächste Teil der Stadt, die dann auch noch nicht aufhört. Also, wenn Sie heute vom westlichen Charlottenburg bis Erkner fahren, dauert das genauso lange wie der Zug nach Wolfsburg oder nach Hannover. Diese Ausgedehntheit ist schon sehr seltsam.

Ulrich Wickert: Wir erleben Sie als Autor, Schauspieler, Fotografen, aber Sie sind ja auch noch Verleger und, ganz wichtig, Vorleser. Für alles, was Sie für das Lesen tun, haben Sie den Preis der Literaturhäuser 2013 erhalten. Aber Ihre eigenen Bücher haben Sie nicht gesprochen?

Hanns Zischler: Nein. In der Regel spreche ich fast nur Literatur, also Prosa. Und ich habe mit Ausnahme eines kleinen Büchleins, das jetzt gerade erschienen ist, nämlich „Der Grasmückensommer“ (Verlag Ulrich Keicher, 24 S., 12 €), keine Prosa veröffentlicht. Das Berlin-Buch als Hörbuch zu machen, fände ich schwierig, weil es auch mit den Bildern zusammenhängt. Als Verleger interessiert mich in erster Linie das Verhältnis von Abbildung und Text. Ich habe eine starke Vorliebe für in einem traditionellen Sinn illustrierte Bücher – was die Engländer so gut können.

Ulrich Wickert: Es gibt von Ihnen ein wunderbares Buch, „Der Schmetterlingskoffer: Die tropischen Expeditionen von Arnold Schultze“ (Galiani, 255 S., 39,95 bzw. 20 €). Es hat noch einen Leinenrücken. Und wenn man es aufschlägt – das gibt es ja kaum noch, dass der Bucheinband mit einem Vorsatzpapier versehen ist. Dieses Buch kann man sich als E-Book überhaupt nicht vorstellen. Und dann erscheint im September von Ihnen ein noch viel schöneres Buch, „Die Erkundung Brasiliens“ (Galiani). Was hat es mit dem auf sich?

Hanns Zischler: Friedrich Sellow ist der große Unbekannte der deutschen Naturkunde. Er war ein Potsdamer Gärtner, 1789 geboren, dessen frühe Begabung als Botaniker oder Gärtner erkannt wurde. Er wurde von Humboldt und vor allem von Willdenow, dem Leiter des Botanischen Museums in Berlin, gefördert, hat dann eine seltsame Kurzausbildung, man könnte sagen, einen Crashkurs durchlaufen über Paris und England und ist dann mitgenommen worden auf eine Riesenexpedition nach Brasilien, was sich damals überhaupt der Welt erst geöffnet hatte. Er ist dann als der bedeutendste Sammler für Botanik, Zoologie, Ethnologie und Linguistik durch Brasilien gereist und hat Berlin mit unendlich vielen Objekten beliefert. Und dann hat ihn ein tragisches Schicksal ereilt. Er wollte irgendwann zurückkehren. Man hat ihm gesagt, „Nein, sammle weiter, du bist unser bester Mann, nicht in Havanna, sondern in Brasilien“. Und er ist dann 1831 ertrunken. Er war ein Ironman, kann man sagen, ungeheuer durchtrainiert. Anfang 40, und dann ist das passiert, was das Schlimmste für einen Forscher sein kann: dass nämlich die Sammlungen, die er angelegt hat, nicht mehr von ihm selbst ausgewertet werden konnten. Und damit verwaisen sie.

Ulrich Wickert: Das ist ein ähnliches Schicksal wie das des Kartografen und Insektenforschers Schultze, des Besitzers des „Schmetterlingskoffers“. Der kommt auch nicht zurück, weil er auf der Rückfahrt stirbt. Dann bleibt dessen Koffer in Berlin, bis Sie ihn wiederentdecken und seinen Inhalt beschreiben.

Hanns Zischler: Arnold Schultze war einer der besten deutschen wissenschaftlichen Reiseschriftsteller. Über das kolumbianische Hochland hat er eine hinreißende Arbeit geschrieben, er ist unter Fachleuten bekannt und geschätzt. Er war Kartograf und Insektenforscher. Die Schmetterlinge waren die Liebhaberei, eigentlich war er Botaniker. Wie es eben damals üblich war, konnte man alles. Das heißt, in diesem humboldtschen Sinn traute man sich viel zu. Schultze hat sich gründlich vorbereitet, hat zweimal promoviert. Und dann geht man eben los und wird dann zum Lohn dafür vergessen.