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Den Begriff der Identität nicht den Rechten überlassen
11.11.2019, Badische Zeitung
Der Journalist Ulrich Wickert fordert in Offenburg mit seinem Buch „Identifiziert Euch“ einen differenzierten Heimatbegriff.
OFFENBURG. Mit den Themen Identität und Heimat hat sich Journalist Ulrich Wickert in seinem neuen Buch „Identifiziert Euch“ beschäftigt, aus dem er am vergangenen Mittwochabend im Forum Kino in Offenburg las. Barbara Roth von der Buchhandlung Roth begrüßte den Journalisten, der bekannt ist als Tagesthemen-Journalist, ARD-Korrespondent, Moderator und Buchautor.
„Wir haben vielfältige Probleme, die mittlerweile mehr sind als nur ein bisschen Sand im Getriebe. In Zeiten von politischen Extremen und erstarkenden Nationalismen stellt sich die Frage, was eint uns als Bürger in Deutschland“, leitet Wickert seine Lesung ein. Das Thema beschäftigt den 1942 in Tokio geborenen Journalisten, der Teile seiner Kindheit in Frankreich verbracht und als Korrespondent in Paris und New York gearbeitet hat. Die Frage nach der eigenen und der nationalen Identität habe ihn schon lange beschäftigt und zum Schreiben des Buchs motiviert. Die Erkenntnis, dass gemeinsame nationale Kollektivität etwas mit Heimatgefühl zu tun hat, habe ihn in Frankreich getroffen. Dort hat er einen ganz anderen Umgang mit dem Begriff Nation erlebt, er begründet das auch historisch. Deutschland ist im Gegensatz zu Frankreich eine junge Nation, die vor 1871 ein Volk der gemeinsamen deutschen Sprache war, ohne gemeinsame Verfassung. Im Nachkriegs- und Nach-Hitler-Deutschland wurde der Begriff Nation vor allem reaktionär gedeutet aus Angst vor einer ethnischen-völkischen Definition. Die relativ junge Nation Deutschland wird vor allem mit der Schuldfrage der beiden letzten Weltkriege in Verbindung gebracht, auch nach der deutschen Wiedervereinigung herrscht in den Köpfen vieler Deutscher der von Philosoph Jürgen Habermas geprägte Begriff des „Postnationalen“.
Wickerts Ringen um den Begriff nationale Identität und Heimat ist eine Gratwanderung. Scharf grenzt er sich gegen AfD-Politiker Alexander Gauland ab, der die Hitler-Ära als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet, nennt aber auch Integrationsunwilligkeit und Gewalt durch Asylbewerber, zunehmende Verrohung im Umgang miteinander und eine Vereinzelung der Gesellschaft.
Episoden und Begegnungen in seinem Leben veranschaulichen seine Sicht auf die Begriffe Identität und Heimat. Um den Begriff „Heimatgefühl“ zu verdeutlichen, erzählt er das Erlebnis von Günther Grass, der 17-jährig als einziger seiner Hitlerjugendtruppe den Kampf gegen russische Truppen im Thüringischen Wald überlebt hat und völlig verängstigt „Hänschen klein…“ sang, dadurch aber von einem deutschen Soldaten gerettet werden konnte. Im Kinosaal ist es mucksmäuschenstill.
Dann wieder macht er Heimat an kulinarischen Genüssen fest, am Essen, das in Frankreich kulturell einen sehr hohen Stellenwert hat, am Wein, den er in der Ortenau sehr schätzt, den Hamburger, den er in New York seit 30 Jahren in der selben Bar genießt. Der entspannte plaudernde Stil mit dem Wickert mit Humor und Ernst mal liest, mal vorträgt, sorgt für eine fast intime Stimmung in dem sehr gut gefüllten großen Kinosaal. Das überwiegend ältere Publikum weiß, wovon er spricht, wenn er von dem Nazi-Schergen Klaus Barbie spricht oder von den Erfahrungen eines Cem Özdemir, der als Migrantenkind von seiner Lehrerin an deutsche Medien und Verfassung geführt wurde und sich zu Deutschland als Heimatland bekennt. Entsprechend lang ist die Schlange im Anschluss an die Lesung, bei der Signierung seines Buches. Er beschließt den Abend mit einem Appell an die Verantwortung des Einzelnen: Deutschsein ist kein Zustand, sondern eine Aufgabe, die sich an dem Leitsatz zu orientieren habe „die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Von Carola Bruhier