Ulrich Wickert

Aktuelles

Der Ehrliche ist der Dumme

Dieses Buch, das in den Neunzigern zwei Jahre lang Nummer eins auf

der SPIEGEL-Bestsellerliste war, ist jetzt in einer Neuauflage erschienen: und genau

so aktuell wie am ersten Tag. Und gleich stand das Buch auch wieder in der

Spiegel Bestsellerliste auf Platz 15!

Mein neues Vorwort:

„Ein junger Mann ist tot. Er wurde erschossen von Mario N., weil der Zwanzigjährige an der Kasse einer Tankstelle von seinem Mörder verlangte, er möge bitte die Regeln einhalten. Die Regel besagte in diesem Fall, er müsse sich eine Maske aufsetzen. Eine Corona-Regel. Mario N. war aber, wie seine Nachbarn später berichteten, ein Corona-Leugner. Er ging nach Hause, holte eine Pistole, kehrte zur Tankstelle zurück und schoss dem jungen Mann in den Kopf. Der Polizei erklärte er, das Opfer sei „verantwortlich für die Gesamtsituation, da es die Regeln durchgesetzt habe“. 

         Ehrlich! Man ist ja wirklich der Dumme, wenn man sich an Regeln hält, oder etwa nicht? Es hat sich wohl nichts geändert, seitdem dieses Buch zum ersten Mal erschienen ist. Als kritischer Journalist fürchte ich, manche finden den Regelbruch auch noch „cool“.

         So hat Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) im Sommer 2021 damit geprotzt, er habe während des Lockdowns bewusst gegen Corona-Regeln verstoßen. Denn in seinem Wohnort Strande in Schleswig-Holstein seien Kneipen trotz Verbots geöffnet gewesen und „selbstverständlich“ sei auch er dort gewesen. „Ich habe von meinem Recht auf autonomes Handeln Gebrauch gemacht.“

         Damit will er sagen, nur Dumme halten sich an Regeln. Und wenn ein in der Öffentlichkeit häufig zu sehender Vizepräsident des Bundestages mit dem Regelbruch auch noch angibt, dann wird doch wohl auch der einfache Mann diesem Vorbild folgen dürfen.

         An schlechten Vorbildern fehlt es leider nicht.

Bundestagsabgeordnete haben die Corona-Pandemie genutzt, um hunderttausende von Euro für ihre Vermittlung von Schutzmasken an das Bundesgesundheitsministerium abzusahnen, tausende Betrüger sind ihrem Beispiel gefolgt und haben erfundene Hilfsanträge gestellt. Aber da folgen sie ja auch nur den Machenschaften großer Auto-Manager, die jetzt vor Gericht stehen, weil sie ihre Kunden betrogen haben – im Abgasskandal. Oder sie folgen Bankern und Anwälten, die den Staat in Cum-Ex-Geschäften um Milliarden geprellt haben, indem sie sich ihnen nicht zustehende Rückerstattungen gleich zweimal auszahlen ließen. Sie haben von ihrem „Recht auf autonomes Handeln Gebrauch“ gemacht.

         Was bedeutet es denn, die Regeln der Gesellschaft zu befolgen? Sobald in einer noch so kleinen Gemeinschaft – etwa in einer Familie – mehrere Menschen zusammenleben, werden sie sich Regeln für den Umgang miteinander geben. Überall auf der Welt, wo größere Gesellschaften entstanden sind, entwickelte sich für das friedliche Leben miteinander die „Goldene Regel“: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“

         Um Menschen nun zu überzeugen, gesellschaftliche Regeln einzuhalten, bedarf es unter anderem auch der Lehrmeister, die ethische Werte vorleben.

         Im Wahlkampf 2021 hat Olaf Scholz als Kanzlerkandidat der SPD unablässig mehr Respekt gefordert, den man sich gegenseitig erweisen möge. Respekt entspringt der Würde des Menschen.

Aber wird die Würde des Menschen nicht ständig missachtet?

Das beklagen täglich viele Menschen, die mit dem Einhalten von Regeln zu tun haben; Polizisten und Schaffner, Lehrerinnen, Krankenhausmitarbeiter und Kassiererinnen werden bedroht oder angepöbelt, weil sie ihre Pflicht ausüben.

Es wird ja auch viel gejammert über unkontrollierte Hass- und Gewaltaufrufe im Netz. Aber die Gesellschaft nimmt die Hass- und Gewaltaufrufe hin, als sei dieser Zustand gottgegeben. Weil Hass und Gewalt den Netzbetreibern Milliardengewinne in die Kassen spülen, traut sich der Staat nicht, „von seinem Recht auf autonomes Handeln“ zu Gunsten einer respektvollen Gesellschaft Gebrauch zu machen, um den Verlust der ethischen Werte zu bekämpfen.

Es ist aber dringend notwendig, dass ethische Regeln wieder unser Zusammenleben bestimmen. Sonst bleibt es dabei: „Der Ehrliche ist der Dumme.“