Ulrich Wickert

Artikel von mir

Der Mord am Schreibtisch

05.02.2011, Die Welt

Rembrandt und die Qualen der Todesstrafe: Margriet de Moor im Gespräch mit Ulrich Wickert

In ihrem neuen Roman „Der Maler und das Mädchen“ führt Margriet de Moor zwei historische Figuren zusammen: Den sechzigjährigen Rembrandt und die junge Elsje, die einen Mord begeht und dafür mit dem Leben bezahlt

Ulrich Wickert: Warum hat der Maler in Ihrem Buch eigentlich keinen Namen, wo doch jeder weiß, dass es sich um Rembrandt handelt?

Margriet de Moor: Er gilt heute als der genialste Maler, den es je gegeben hat. Damit habe ich meine Figur nicht belasten wollen. Und ich wollte, dass er für alle anderen Maler steht, für den Künstler, der in der Intimität der Werkstatt etwas Schönes macht.

Ulrich Wickert: Die Handlung spielt an einem einzigen Tag, und trotzdem erleben wir zwei Lebensläufe. Sie beschreiben viele Bilder, die dieser Maler gemalt hat und die wir alle kennen.

Margriet de Moor: Diese Gemälde waren aber damals nicht die Gemälde, die sie heute sind. Kunstwerke ändern sich mit der vergehenden Zeit. Die Augen der Menschen verändern sich, und auch wie man über die Gemälde redet, ändert sich. Damals waren sie die Gemälde, die sie damals waren.
Anzeige

Ulrich Wickert: Rembrandts Biografie ist spannend. Großer Reichtum, dann der Konkurs, nach dem ihm alles genommen wird.

Margriet de Moor: Ja, er ist eine tragische Figur. Was ihm genommen wurde, war ja auch seine Kunstsammlung. Er besaß eigentlich alle wichtigen Kunstwerke, die es damals gab, natürlich nur in Reproduktionen. Das waren damals Radierungen. Und so war er zum Beispiel im Besitz des Gesamtwerks von Tizian, den er sehr bewundert hat und von dem er auch sehr beeinflusst war. Mit dieser Sammlung nahm man ihm auch sein Gehirn, seine Biografie.

Ulrich Wickert: Warum hat er an dem einen Tag, von dem Ihr Buch handelt, am Ende das tote Mädchen gemalt? Er wollte ja anfangs nicht zur Hinrichtung gehen. Abends ist er doch gegangen und hat das Mädchen in Tusche gezeichnet.

Margriet de Moor: Er war an diesem Tag auf dem Weg zur Warmoesstraat, die es noch immer gibt, mit derselben Atmosphäre, die damals herrschte. Er wollte Materialien für das große Werk kaufen, an dem er arbeitete. Und dann sah er die Aufregung in der Stadt. Die Glocken läuteten, er fragte eine Frau, was los sei. Die sagte, na ja, das weiß doch die ganze Stadt, heute wird ein Mädchen erdrosselt. Erst 18 Jahre ist es alt. Rembrandt war noch immer nicht besonders interessiert, aber die Worte arbeiteten in ihm. Dann kam sein Sohn nach Hause, sie aßen und tranken, und der Junge war ganz erfüllt von der Hinrichtung. Diese Emotion übertrug sich auf den Maler, und nun war sein Interesse doch geweckt. Er schnappte sich seine Tasche, packte das Nötigste ein, was er zum Malen brauchte, und begab sich zum Hinrichtungsplatz.

Ulrich Wickert: Lassen Sie uns über das Mädchen sprechen. Es hat ja zwei Namen. Else, weil es in Dänemark geboren wurde, und Elsje, wie es in Amsterdam genannt wurde, obwohl es hier nur vierzehn Tage gelebt hat. Ist das eine wahre Geschichte?

Margriet de Moor: Ja. ‚Elsje‘, ein kleines Mädchen, ein ganz unschuldiges junges Ding, besucht seine Halbschwester in Amsterdam, ohne die geringste Ahnung davon, was eine Großstadt ist. Das muss man sich vorstellen, Amsterdam war damals neben Paris und London die europäische Metropole, eine internationale Stadt, mit einem sehr großen Arbeitsangebot. Es kamen jedes Jahr 1200 Mädchen, um eine Stellung in einem Haushalt zu suchen, und die fanden sie auch und auch oft einen Mann. Elsje kam vom Land, sie wusste zum Beispiel nicht, was Prostitution war. Da sie eine Unterkunft finden musste, nahm eine Frau sie mit und führte sie in eine kleine Pension, die auch als Stundenhotel funktionierte, was aber Elsje zunächst gar nicht merkt, naiv, wie sie ist.

Ulrich Wickert: Das Problem ist, sie hat kein Geld, und plötzlich will die Wirtin welches.

Margriet de Moor: Ja. Und da sucht nun Elsje ihre Schwester. Doch sie findet sie nicht. Ich denke, die Schwester war an der Pest gestorben, die im Jahr zuvor in Amsterdam gewütet hat und der ja auch die zweite Frau von Rembrandt zum Opfer gefallen war. Also, sie irrt in der Stadt umher, versucht, so billig wie möglich zu leben, hungert. Und da suggeriert ihr nun die Wirtin, es gäbe schon eine Möglichkeit, an Geld zu kommen, sie müsse ja nur schauen, was die Frauen bei ihr in der Pension so treiben. Und Elsje, einerseits unter Druck gesetzt, andererseits noch fast ein Kind und in der körperlichen Liebe gänzlich unerfahren, verliert die Nerven, findet ein Beil und erschlägt in ihrer Wut mit diesem Beil die Wirtin. Das wird bemerkt, und sofort wird sie verhaftet, zum Tode verurteilt, denn auf Mord stand natürlich Todesstrafe. Sie bekommt sogar noch eine Extrastrafe, denn man verweigert ihr, da sie nicht bereut, die Beerdigung. Für einen gläubigen Christen ist das furchtbar, denn das bedeutet, dass die unsterbliche Seele sich nicht vom Körper trennen kann.

Ulrich Wickert: Sie haben Ihrem Roman als Motto das Lied „Mein junges Leben hat ein End“ vorangestellt. Warum?

Margriet de Moor: Eigentlich geht das ganze Buch darüber – oder besser gesagt die Hälfte. Das Buch hat ja zwei Hauptfiguren: den Maler, der am Ende seines Lebens ist, und Elsje, die einfach davon ausgeht, dass ihr junges Leben gerade erst beginnt. Und darum dieses traurige Buch, denn es ist ein wehmütiges Lied. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert, also aus Elsjes Zeit. Man hat es damals auf Deutsch in den Gassen Amsterdams gesungen.

Ulrich Wickert: Schwestern spielen immer wieder eine Rolle bei Ihnen, besonders im Roman „Sturmflut“, wo Sie anhand der Sturmflut von 1953 in den Niederlanden die Schicksale von zwei Schwestern verknüpfen. Aber auch in dem neuen Roman spielt Sarah Dina, die ältere Schwester von Elsje, eine Rolle. Können wir diese Schwester Sarah Dina als eine Art Lockvogel ansehen?

Margriet de Moor: Ja, das ist gut gesagt. Und, ja, Schwestern – über die weiß ich eben ziemlich viel. Ich hatte sechs davon, ich komme aus einer großen katholischen Familie, wir waren zehn Kinder. Trotzdem bin ich eigentlich nicht fixiert auf das Thema Schwestern. Dafür sind mir meine eigenen Schwestern viel zu fremd – ich bin es ihnen übrigens auch.

Ulrich Wickert: Wo und wie sind Sie aufgewachsen?

Margriet de Moor: In einem Dorf am Rande des Sees, in Noordwijk, viele Deutsche verbrachten dort die Ferien. Wir sind alle zehn dort geboren. Meine Eltern sind auch immer dort geblieben. Das Haus war nicht besonders groß, und im Sommer hatten wir sogar noch zahlende Gäste. Also, ich war daran gewöhnt, mit meinen Schwestern in einem Bett zu schlafen, dadurch entstand natürlich eine große Nähe. Und dazu waren wir auch noch alle Leseratten! Übrigens vertieften wir uns auch deshalb so in „Krieg und Frieden“ oder den „Grafen von Monte Christo“, weil wir uns so dem Rummel im Haus entziehen konnten, das war fast die einzige Möglichkeit, endlich mal für sich zu sein. Das ist ja bis heute der große Vorzug von Literatur, speziell von dickleibigen Romanen. Sie verschaffen uns Stille und das, was die Angelsachsen „privacy“ nennen. In unserem Massenzeitalter scheint mir das doch wichtig zu sein.

Ulrich Wickert: Sind Sie immer noch eine Leseratte?

Margriet de Moor: Ja, ich lese noch immer sehr viel, weil das zu meiner Natur gehört. Auch für meine Bücher, aber das läuft eher unter Recherche.

Ulrich Wickert: Welche Autoren liegen Ihnen am meisten?

Margriet de Moor: Ich habe eigentlich keine Autoren, die mir am nächsten stehen. Ich habe immer sehr international gelesen. Besonders die russische Literatur. Die niederländische kaum. Ich liebe das Fremde.

Ulrich Wickert: Wie sind Sie eigentlich auf den Fall des Mädchens Elsje gestoßen?

Margriet de Moor: Vor vielen Jahren muss ich die Zeichnungen mal gesehen haben und als ich ihnen später wiederbegegnete, stand ich zwischen zwei Romanen. Da ist mein Geist immer sehr offen. Bei dieser zweiten Begegnung war ich wirklich sehr berührt: Elsje, noch so lebendig, noch so jung und so unschuldig und doch eine „Mörderin“, und dazu Rembrandt, der Maler, der diese Zeichnungen gemacht hat. Und sofort war die Idee zu „Der Maler und das Mädchen“ geboren.

Ulrich Wickert: Und dann haben Sie angefangen zu recherchieren?

Margriet de Moor: Nein, ich fange sofort an mit dem Schreiben. Das heißt, ich entwerfe den Roman. Ich mache sofort die Komposition, sehr schnell, und daran halte ich mich auch. Fast immer schreibe ich schon einige Seiten, zum Beispiel den ersten Satz, ich weiß dann schon ungefähr die Bewegung des Buches. Recherchieren tue ich während der Arbeit. Das ist auch ökonomischer.

Ulrich Wickert: Sie sagten vorhin, dass Sie Elsje gut verstehen, wenn sie ein Beil nimmt, um diese Frau zu erschlagen, die sie zur Prostitution antreiben will.

Margriet de Moor: Ja, ich kann das nachvollziehen. Und als ich gerade dieses Kapitel fertighatte, habe ich wirklich wie ein Engel geschlafen, so glücklich. Im Unterschied zu der Szene von der Hinrichtung. Da habe ich auch recherchieren müssen, wie ging das, wie sah das aus, wie hat man das damals gemacht. Das war so unangenehm! Ich habe es natürlich trotzdem tun müssen. Und da habe ich gesehen, dass man doch irgendwie auch mitschuldig wird. Am Schreibtisch habe ich den Unterschied am eigenen Leibe erfahren, was es bedeutet, einerseits einen Mord zu begehen, andererseits aber auch die Todesstrafe über einen Menschen zu verhängen. Und so kann ich wirklich fast aus Erfahrung sagen, ich bin gegen…

Ulrich Wickert: …Sie sind gegen die Todesstrafe, aber Sie sind für die Mörderin.

Margriet de Moor: Jedenfalls gibt es Umstände, in denen wir alle zum Mörder werden können!

Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen. A. d. Niederl. v. Helga v. Beuningen. Hanser, München. 304 S., 19,90 Euro.