Ulrich Wickert

Artikel von mir

Die Deutschen sind sich fremd

02.06.2018, Essay im SPIEGEL

Hinter der Islamdebatte verbirgt sich eine ganz andere Frage: die nach der deutschen Identität. Versuch einer Antwort.

Die Gespensterdebatte schmerzt: „Der Islam gehört zu Deutschland“ oder der „Islam gehört nicht zu Deutschland“. Beide Sätze sind Quatsch. Schlichtweg Unsinn.

Denen, die finden der Islam gehöre zu Deutschland aber auch die, die den Satz ablehnen, geht es weder grundsätzlich um Deutschland noch um die Religion der Muslime, sondern um eine Auseinandersetzung über die deutsche Identität. Und ich fürchte, sie merken es noch nicht einmal.

Es ist all zu offensichtlich: Wer den Islam zu Deutschland gehörig bezeichnet, will die Gefühle seiner aufgeklärten Wähler mobilisieren, weil er hofft, dass sie in ihm einen modernen, toleranten Menschen sehen. Ginge es wirklich um den Islam, dann müssten sich die Islamverbände der deutschen Muslime in erster Linie angesprochen fühlen, doch sie nehmen an dieser Debatte gar nicht teil. Der in der Türkei geborene deutsche Autor Feridun Zaimoglu urteilt, diese Vereine hätten sich „als Heimatvertriebenenverbände konstituiert. Sie ergehen sich in Beleidigungsritualen. Wir sind hier in Deutschland, und das wollen sie nicht realisieren“.

Diejenigen, für die der Islam nicht zu Deutschland gehört, nutzen Fremdenfeindlichkeit wiederum für ihre politischen Zwecke.
Eines haben beide Positionen gemein: sie wollen Menschen voneinander abgrenzen. Nach dem Motto: Wer die kollektive Identität der Deutschen nicht so interpretiert wie ich, der ist ein minderer Mensch. Bist Du für/gegen den Islam in Deutschland, bist du – je nachdem – ein guter oder schlechter Mensch.

Das Missverständnis beruht auf einer schlichten Tatsache: die Deutschen sind sich selber fremd. Unbewusst hadern sie mit dem Deutsch-sein. Sie verlagern die Auseinandersetzung um die deutsche Identität auf den Nebenkriegsschauplatz „Islam“. Der Islam gehört zu Deutschland, sagen die, die sich modern empfinden, und fügen gleich hinzu, eine deutsche Identität gibt es nicht. Ein Widerspruch in sich. Was macht denn dann das Deutsch-sein aus?
Der Begriff „Identität“ ist vielen Deutschen – Politikern wie Publizisten – dann besonders unheimlich, wenn er nicht nur auf eine Person, sondern auf „die Deutschen“ als Gesamtheit bezogen wird.
Kann es denn eine „deutsche Identität“ geben? Das würde ja bedeuten, dass alle Deutschen etwas gemein hätten.
Kollektive Identitäten sind den Deutschen suspekt, denn sie „enden notorisch in der Uniformierung oder mit dem Ausschluss von Individuen
so schreibt es die SZ. „Um jemanden zu diskriminieren, zu vertreiben und im Extremfall zu tö̈ten, muss man ihn nur möglichst vereinfachend identifizieren… Wer diesen begrifflichen Kadaver noch einmal aus der Gruft zerrt, beweist also nur eines: Mut zur Peinlichkeit.“
Genau so flapsig gesagt: Also ab in die Gruft – von Hegel über Elias bis Habermas!
Selbst Bundespräsident Roman Herzog bestritt in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit 1994 kurzerhand die Existenz einer deutschen Identität. Er sagte: „Wer über dieses Thema spricht, von dem werden heute mehr Wehklagen als Aussagen erwartet. Aber daran will ich mich nicht beteiligen, zumal ich immer noch keinen gefunden habe, der mir erklären könnte, was ’nationale Identität‘ eigentlich ist – ’nationale Identität‘, die uns angeblich fehlt und die wir angeblich dringend benötigen.“
Als ich Herzog einige Wochen nach seiner Rede auf diese Aussage ansprach, um sie mit ihm zu diskutieren, meinte er nur kurz: „Auf jeden Fall ist die individuelle Identität eines jeden Einzelnen unbestritten.“ Richtig. Aber das ist eben nur die Hälfte der Wirklichkeit.
So unterscheidet Norbert Elias zwar zwischen Ich-Identität (Individuum) und Wir-Identität (Gesellschaft), aber sie hängen voneinander ab, und Elias begründet dies damit, dass Vergangenheit, Gegenwart und

Zukunft des Kollektivs eine Rolle in der Bildung der individuellen Identität spielt.
Die Besonderheiten einer kollektiven Erfahrung, wie etwa die Ge- schichte des Dritten Reichs und der Judenmord, kann zu einer besonderen Prägung der Identität eines Deutschen führen. Je nachdem, wie er mit diesem Teil der deutschen Geschichte konfrontiert wird. Doch gerade dieser Teil des kollektiven Bewusstseins kann ebenso zu einer kritischen Störung des Gefühls der Identität mit sich selbst führen, die einen Deutschen trifft. Es darf hier kein Missverständnis geben: Wenn von nationaler Identität gesprochen wird, so bedeutet dies nicht, dass die Kollektivität mit einer festgefügten Identität versehen ist. Identitäten – ob individuelle oder kollektive – wandeln sich, denn sie sind einem ständigen Lernprozess und daraus folgenden Veränderungen unterworfen. In sofern ist auch der Begriff Leitkultur falsch, wenn er als statisch, als unveränderbar benutzt wird-
Der bewusste Teil der Identitätsbildung hat für Jürgen Habermas seine soziale Bedeutung: „Erst das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu ‚demselben‘ Volk macht die Untertanen zu Bürgern eines einzigen politischen Gemeinwesens – zu Mitgliedern, die sich füreinander verantwortlich fühlen können.“
Eine Gesellschaft hat keine Identität wie ein Gegenstand oder eine Person, die in deren Einzigartigkeit besteht. Habermas stellt ethische Bedingungen, Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, damit eine nationale Identität vernünftig sein und in einer „postnationalen“ Gesellschaft Bestand haben kann. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht angewandt werden kann, wie es Rechtsradikale versuchen, indem sie Identität benutzen, um andere auszuschließen. Wie eben mit dem Satz, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.
Wer sorgsam mit dem Begriff „nationale Identität“ umgeht, weiß, dass er weder rechts, noch links interpretiert werden darf, so der französische Historiker Fernand Braudel, denn er ist „das lebendige Resultat alles dessen, was die unbeendbare Vergangenheit in aufeinanderfolgen- den Schichten geduldig deponiert hat – ganz so, wie die kaum wahrnehmbaren Ablagerungen des Meeres mit der Zeit die mächtigen Aufwerfungen der Erdkruste gebildet haben.“
Viele Deutsche haben aber Angst vor den ‚mächtigen Aufwerfun- gen‘ in der deutschen Identität: die Geschichte des Dritten Reichs, die Vernichtung von sechs Millionen Menschen in den Konzentrationslagern. Als ich dieses Thema kürzlich gegenüber einer vierzigjährigen Deutschen, ihr Mann war ehemals Vorstand eines großen Hamburger Unternehmens, ansprach, winkte sie lachend ab und sagte, sie habe kein Problem mit der deutschen Identität: „Denn ich habe nur eine europäische Identität.“ Und ihr fiel nicht auf, dass sie mit dieser Aussage aus der deutschen Identität zu fliehen versuchte. Vergeblich. Denn im Ausland wird sie niemand als Europäerin (was ist das?) identifizieren, sondern stets als Deutsche. Schon allein durch ihren Akzent.

Ein Landesminister, der sich für den Satz „der Islam gehört zu Deutschland“ aussprach, lebt in einer bürgerlichen Gegend. Doch als seine Kinder in eine Schule mit hohem „Migrantenanteil“ gehen sollten, setzte er all seine politische Macht ein, um das zu verhindern. Aber das darf er ja nicht sagen. Und da steht er nicht allein. Die Zahl der teuren Privatschulen, hat sich in den letzten Jahren in Deutschland fast verdreifacht.
Im Privaten reden viele scheinbar aufgeklärte Menschen anders als öffentlich, etwa wenn sie nach Jahren wieder in die Heimat zur Abitursfeier fahren und erschreckt feststellen, dass der Ortsteil, in dem sie aufgewachsen sind, inzwischen fremd und wie „Klein-Istanbul“ wirkt. Da empfinden sie einen Verlust an Heimat. Aber auch dieses Wort gehört zu den deutschen Tabu-Themen. Würde es sonst so heftig diskutiert? Aber Heimat gibt es und ist auch Teil der Identität. Wer will leugnen, dass zur Identität einer Person Empfindungen wie Gerüche, Geräusche, Geschmack und Düfte gehören, ja sogar Eß- und Trinkgewohnheiten. So kann auch die Prägung durch das kollektive Bewusstsein sowohl rational wie emotional wirken. In Deutschland gehört eine Portion Mut dazu, sich zu solchen Gefühlen zu bekennen: Ich liebe Deutschland? Hatte doch der nüchterne Bundespräsident Gustav Heinemann auf die Frage, ob er den Staat liebe, geantwortet: „Ich liebe meine Frau.“
Sein Unbehagen am Fremden gibt derjenige nicht offen zu, der als aufgeklärter Bürger gelten will. Schließlich will er nicht so reden, wie die Leute von der AfD, in deren Programm steht, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.
Und ich will auch ehrlich zugeben, dass es mich verwundert, wenn ich in München in der Nähe des allzubayerischen Viktualienmarktes Frauen in schwarzem Niqab, der nur einen Schlitz für die Augen frei lässt, begegne. Oder wenn ich durch die Innenstadt von Lüdenscheid strolle, wo ich von äußerst freundlichen Menschen gegrüßt werde, die fast alle keine sauerländische Herkunft mehr erkennen lassen. „Wir sind nicht Burka“ titelte BILD, die ein besonderes Gespür für die Gemütslage ihrer Leserschaft und darüber hinaus hat. Mit Religionen lassen sich Emotionen mobilisieren.
Das weiß auch der neue bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Er hält den Islam zu recht für „nicht identitätsstiftend“, stattdessen ist für ihn das Kruzifix als Symbol des christlichen Glaubens ein „Bekenntnis zur Identität“, weshalb das Kreuz jetzt in jeder bayerischen Amtsstube hängen soll. Dem widerspricht aber selbst der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick: das Kreuz sei „kein Identitätszeichen irgendeines Landes oder eines Staates“. Da mag wiederum der Gottesmann sich irren.
Die Aufregung über Söders Vorstoß war groß. Was bedeutet das Kreuz? Schließlich sind Staat und Kirche in Deutschland getrennt – siehe Grundgesetz! Die Vernunft beruft sich auf den säkularen Staat. Schön und gut. Aber so „vernunftmäßig“ lässt sich die Wirklichkeit nicht katalogisieren. Söder benutzt das Kreuz nicht als Reliquie, sondern als Symbol für die identitätstiftende Rolle der christlichen Religion. Und da wirkt es. Denn trotz aller Trennung von Staat und Kirche, trotz leerer Kirchen und wachsender Flucht aus den Kirchen, gehört ein bestimmter, über die Jahrhunderte gewachsener Ausdruck christlichen Gedankenguts zum unbewussten Teil der deutschen Identität.
Keiner hat dies präziser formuliert als Max Weber in seinem Werk über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Weber beschreibt, weshalb der Charakter des Kapitalbesitzes und des Unternehmertums vorwiegend mit der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus zusammenhängt (und weshalb der Kapitalismus im Westen und nicht in Asien „erfunden“ wurde), und er bemerkt eine auffallend „geringere Beteiligung der Katholiken am modernen Erwerbsleben in Deutschland“.
Das Kreuz wirkt auch im laizistischen Frankreich, allerdings ganz anders als in Deutschland. Zwar gehen dort nur noch 4 bis 5% der Einwohner zur Kirche, doch die französische Soziologie hat den Begriff des „catholicisme zombie“ geprägt. Obwohl niemand den Glauben pflegt, be-
stimmt er trotzdem Denken und Handeln der Mehrheit der Bürger, was Präsident François Hollande schmerzlich erfahren musste, als ganz un- erwartet hunderttausende von vermeintlich toleranten Franzosen monatelang gegen die Ehe für alle demonstrierten und bei den Präsidentschaftswahlen 2017 großen Einfluss ausübten.
Und Fernand Braudel, Max Weber bestätigend, schreibt in seinem Werk über „L’Identité de la France“, wegen seiner katholischen Religion sei Frankreich nie dem Kapitalismus verfallen, sondern ein Opfer des Kapitalismus!
Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass Deutschland von einem protestantischen Geschichtsbewusstsein geprägt ist, Frankreich von einem katholischen. In Deutschland folgt auf die Sünde die ewige Frage nach der Schuld, in Frankreich die Beichte, die Sühne und schließlich die Absolution (in Form der Amnestie).
Wegen des „zombiehaften“ Wirkens der Religion, wird auch das Kreuz Söders bei den nächsten Wahlen in Bayern Erfolg zeitigen. Weil es das Gemüt trifft. Insoweit hat das Kreuz eine Heimat in Deutschland, nicht der Islam. Das lässt sich genau so wenig leugnen, wie dass es Heimat oder eine deutsche Identität gibt.
Interessanterweise stellt in diesem Zusammenhang niemand die Frage, was denn Deutschland sei. Als erstes sei daran erinnert: Deutschland gibt es als „Land“ erst seit 1871. Zum zweiten: Der Glaube an deutsches Blut und die Vermutung, es gäbe eine deutsche Rasse, beruhen auf einem weitverbreiteten Irrtum. Der Begriff deutsch ist nicht von einem Stammesnamen abgeleitet, sondern von dem der Sprache und wurde zum ersten Mal im im Annolied um 1180 angewendet. Deshalb ist es falsch, zu behaupten, die Deutschen seien aus den Germanen hervorgegangen. Während des Dritten Reiches versuchten die Nazis, mit dem Hinweis auf die germanische Vergangenheit der Deutschen den Superioritätsanspruch ihrer vermeintlichen Herrenrasse auf ein historisches Fundament zu stellen.
Warum beschäftigen wir uns eigentlich im Zusammenhang mit der „Islamdebatte“, die eigentlich eine Flüchtlingsdebatte ist, mit der Frage, was deutsch ist? Weil sie davon ablenkt, was sich alles in der deutschen Identität befindet. Das zu vermitteln wäre auch eine Aufgabe der Schulen. Doch zu meinem Entsetzen kann man in vielen Bundesländern in der Oberstufe Geschichte abwählen! Dort sollte man lernen, was Identität bedeutet. So steht bei der Islam-Debatte die Frage im Raum: wie wichtig ist die kollektive Identität für Denken und Handeln einer Gesellschaft?
Die richtige Antwort finde ich in einem Satz des französischen Staatsphilosophen Charles de Montesquieu. Er sagte von sich, er sei aus Notwendigkeit Mensch, aus Zufall Franzose.
Während Montesquieu eine Person zuerst Mensch sein lässt und ihn dann mit einer jeweiligen, zufällig erworbenen nationalen Identität versieht, wird den Deutschen vorgeworfen, sie würden umgekehrt denken.
Wenn ich die Auseinandersetzung um den Islam und Deutschland manchmal mit Verzweiflung verfolge, denke ich unwillkürlich an den Satz, mit dem der französische Anthropologe die „traditionelle Weltanschauung“ der Deutschen definierte: „Ich bin aufgrund meines Wesens
Deutscher und dank meiner deutschen Qualität Mensch.“ Andersherum gesagt: ich bin als Deutscher ein besserer Mensch.
Die Rangfolge muss heißen: von Geburt Mensch, aus Zufall Franzose, Deutscher oder Moslem…
Menschsein bedeutet, sich im Besitz der Menschenwürde zu befinden. Die Menschenwürde ist die Grundlage der Menschenrechte, also jener ethischen Werte, die das Verhalten innerhalb der Gesellschaft regeln. Menschsein ist als absoluter Wert zu verstehen, die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv als relativer. Und diese Erkenntnis sollte unsere Debatte über die Menschen in Deutschland bestimmen.
So sollte aus der Flüchtlingsdebatte eine Zukunftsdebatte werden: Deutschland wird als Wohlfahrtsstaat nur überleben als zukünftige Heimat von Einwanderern. Voraussetzung für unsere politischen Ziele kann nur die Würde des Menschen sein, aus der sich der Ethos ergibt mit seinen Werten, ob sie nun Solidarität oder Toleranz oder Gerechtigkeit heißen. Solidarität unter den Menschen haben die Deutschen im Dritten Reich vermissen lassen. Solidarität in der Form der sozialen Absicherung gehört seit mehr als hundert Jahren zur deutschen Identität. Allerdings schwindet das Verständnis der Bürger für diesen Begriff. Starke sehen immer weniger Grund, Schwachen zu helfen. Manche Schwache haben sich an die staatliche Hilfe gewöhnt und vergessen, dass nicht der Staat, sondern auch sie selbst für sich verantwortlich sind. Solidarität hier und Solidarität mit Völkern, die Hilfe benötigen, gehören zu einem humanen Staat, der Deutschland heißen könnte.