Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Diese Piraten-Mentalität hat etwas Schäbiges“

02.06.2012, Welt der Literatur

„In der so genannten Netzgemeinde gibt es viel Spießigkeit“, findet der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Ein Gespräch über geistiges Eigentum, Kinderreime und Europa im Plural.

Ulrich Wickert: 1961 haben Sie eine Sammlung mit Kinderreimen unter dem Titel „Allerleirau“ veröffentlicht. Kinderreime sind wunderbar zeitlos. Deshalb hat der Insel-Verlag den Band dankenswerterweise wieder aufgelegt. Was hat es mit dem Titel „Allerleirau“ auf sich?

Hans Magnus Enzensberger: „Rau“ bedeutet in diesem Zusammenhang Pelzwerk. Das ist also eine Art Patchwork, ein aus verschiedenen Fellen zusammengeflicktes Gewand, das sich im Märchen „Allerleirau“ die Hauptperson überhängt, auch um sich zu tarnen, weil ihr Vater sie zur Frau nehmen will. Märchen sind ja keineswegs harmlos. Da wimmelt es von Mord, Inzest, Totschlag, Gespenstern. Das stört manche Pädagogen; das könne man doch Kindern nicht zumuten. Damit unterschätzt man aber Intelligenz und Energie von Kindern.

Ulrich Wickert: Wann haben Sie die Kinder denn für die Literatur entdeckt? Als Sie selber ein Kind bekommen haben?

Enzensberger: Nein. Viel früher. Das sind ja Gebrauchsgegenstände, Gedichte, die etwas bewirken, die funktionieren – auch heute noch. Es ist nicht wahr, dass das eine verschwundene Tradition ist. Nehmen Sie das Versteckspielen. Wer ist dran? „Ene mene subtrahene divi davi dorimene, ecker, brocka, kasa, nocka, zingele, zangele, duss.“ Und dann muss er das sein.

Ulrich Wickert: Ist der Kinderreim ein Vorläufer der Poesie?

Enzensberger: Ja, das sind ja die ersten Erfahrungen, die man mit Reimen macht. Reimen ist Magie, ein Zaubermittel. Er geht ins Ohr hinein und setzt sich fort – bis in den Schlager, den Popsong. Das lebt ja alles. Die Dichter beschweren sich immer über ihre kleinen Auflagen; niemand würde Gedichte lesen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Die Leute lesen vielleicht andere oder haben andere im Kopf.

Ulrich Wickert: Nach welchen Kriterien haben Sie die Reime ausgesucht?

Enzensberger: Die müssen schon ein bisschen amüsieren. Belehrungen halten sich in Grenzen. Es geht ja nicht darum, das Einmaleins zu lernen. Reime schleppen auch viele Sachen mit, die uns gar nicht mehr gegenwärtig sind. „Pommernland ist abgebrannt“, eine Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg.

Ulrich Wickert: Kroaten kommen auch vor.

Enzensberger: Auch die Kroaten sind im Dreißigjährigen Krieg gekommen. Ist doch kurios, dass eine Ahnung davon auch nach 400 Jahren immer noch im kollektiven Bewusstsein existiert.

Ulrich Wickert: Ich erinnere mich, dass wir in der ersten Schulklasse immer gesungen haben: „Oh, Tannenbaum, oh, Tannenbaum, der Lehrer hat mich blau gehaun. Nun muss ich in der Ecke stehn und mein blauen Flecken zähln.“ In diese Richtung geht es ja bei Ihnen auch manchmal. Also: „Die Fenster aufgerissen, die Lehrer rausgeschmissen, den Stecken hinten nach, dann hammer ein scheenen Tag.“

Enzensberger: Ja, natürlich. Auch die Berufe gehen in die Kinderreime ein. Da gibt es kein heiteres Berufe-Raten, sondern ein heiteres Berufe-Beschimpfen. Da kommt der Müller dran, der Lackierer, das sind alles Schmierer, und so weiter, und so fort. Das ergibt dann im Grunde eine vereinfachte Gesellschaftskunde.

Ulrich Wickert: Was antworten Sie auf den Vorwurf, die „zehn kleinen Negerlein“ seien nicht mehr politisch korrekt?

Enzensberger: Oh je, politisch korrekt! Damit können Kinder natürlich gar nichts anfangen. Das ist eine Sache der Erwachsenen, der Aufpasser unter den Erwachsenen. Jedes normale Kind wird sich immer gegen einen Aufpasser sträuben.

Ulrich Wickert: In der modernen Poesie kommt der Reim nur noch selten vor.

Enzensberger: Ja, warum nur? Ich kann Ihnen sofort ein Sonett liefern oder eine Terzine oder eine Ghasele. Das ist ein bisschen wie mit den Manieren. Man darf ruhig auch mal eine Kartoffel mit dem Messer schneiden, aber es kann nicht schaden, wenn man die Regeln kennt, um sie dann zu sabotieren.

Ulrich Wickert: Kinderreime gehören zur nationalen Identität. Wir sehen aber, dass es in den meisten Kulturen ähnliche Reime oder Märchen gibt.

Enzensberger: Das sind Wanderratten. Die Migration auf diesem Feld war immer lebhaft und groß.

Ulrich Wickert: Womit sind sie gekommen? Mit Soldaten, Händlern?

Enzensberger: Vergessen Sie nicht die Ammen, die Mägde, die Hebammen, alle, die sich um Kinder gekümmert haben.

Ulrich Wickert: Apropos Wanderung durch Europa. Gibt es eine europäische Identität? Gerade der postmoderne Deutsche sagt ja gern: Ich habe keine deutsche Identität, sondern eine europäische.

Enzensberger: Das ist ein bisschen simpel. Warum machen sich die Leute immer so viele Sorgen über ihre Identität? Wissen sie denn nicht, wer sie sind? Warum dieses Grübeln? Natürlich ist man nicht nur eines. Ich gebe zu, ich bin ein Mann. Dann bin ich ein Franke. Dann komme ich aus einer katholischen Tradition und politisch aus der linken Ecke. Dann bin ich Deutscher. Dann bin ich Europäer. Dann bin ich Dichter. Das kann man gar nicht in einem Wort zusammenfassen, was man alles ist. Deswegen lasst doch diese ewige Diskussion, wer bin ich eigentlich. Die geht mir ganz schön auf den Geist.

Ulrich Wickert: Ich finde es schon wichtig, dass man sich die Frage stellt, wer man ist. Denn nationale Identität kann dazu führen, Entscheidungen zu treffen, die in anderen Ländern entgegengesetzt gefällt werden.

Enzensberger: So ist das in Europa immer gewesen. Europa ist ein Plural und kein Singular. Jeder Versuch, das zu homogenisieren – und das werfe ich den politischen Institutionen in Brüssel vor – kann in Europa nicht funktionieren, weil gerade Europa genau das Gegenteil von homogen ist und immer war. Jeder Versuch, das abzuschaffen – siehe Napoleon, Hitler, Stalin – ist misslungen. Vielfalt ist doch nicht schädlich. Ich finde übrigens, drei Sprachen sollte jeder Europäer beherrschen.

Ulrich Wickert: Welche?

Enzensberger: Kann er sich raussuchen. Es müssen ja nicht alle dasselbe können.

Ulrich Wickert: Kinderreime gehören zur mündlichen Überlieferung, sind Teil unseres öffentlichen Bewusstseins. Nun bezeichnet man Sie seit Ihrem Essay über die Sprache des „Spiegel“ von 1957 als einen Kritiker der Bewusstseinsindustrie.

Enzensberger: Den Ausdruck Bewusstseinsindustrie gab es gar nicht. Den habe ich damals erfunden. Eigentlich ganz schön für einen Autor, wenn seine Wörter Gemeingut werden, ohne dass man wüsste, wer das aufgebracht hat. Um 1960 war Adorno-Zeit. Da war immer von Kulturindustrie die Rede. Das schien mir etwas zu eng. Denn wenn Sie eine Zeitung öffnen, ist da nicht nur ein Feuilleton drin. Auch ein Sportteil, alles Mögliche. Der Anspruch einer großen Zeitung ist ja, alle Felder des menschlichen Bewusstseins zu berücksichtigen. Deswegen ist das Bewusstsein der Schlüsselbegriff und nicht die Kultur.

Ulrich Wickert: Industrie bedeutet ja, etwas ist kommerzialisiert. War das, was zur Bildung des Bewusstseins gehört – die Zeitungen, die Bücher – nicht früher etwas, das die Verleger vor allem des Inhalts und nicht so sehr des Gewinns wegen unters Volk brachten? Und hat sich das nicht mit der Einführung des kommerziellen Fernsehens verändert?

Enzensberger: Ja, natürlich. Da haben Sie die ganze Stufenleiter der kapitalistischen Formationen. Das beginnt mit dem Handwerk. Früher hat ein Pfarrer handwerklich gearbeitet in seinem Dorf. Da hat er ja auch Bewusstsein vermittelt. Aber auf der handwerklichen Stufe. Dann kam die Manufaktur. Und dann eben die Industrialisierung. Das heißt, dann kamen der Großbetrieb, die Rotationspresse. Dann kam Maxwell, dann kam Marconi. Mediengeschichte ist schon ganz spannend. Sie ist auch eine Geschichte von Machtwechseln. Wenn jemand an die Börse geht, wer ist das? Das sind Bewusstseinsindustrielle namens Facebook, namens Google. Früher war das vielleicht Kohle und Stahl.

Ulrich Wickert: Wir leben jetzt im Zeitalter der Informationsindustrie.

Enzensberger: Ja, das stimmt. Mit anderen Worten: Es war nicht so ganz blöd, was ich damals, um 1960, geschrieben habe…

Ulrich Wickert: Kommen wir noch einmal auf die Kinderreime. Die fallen nicht unter das Urheberrecht, aber alle Ihre anderen Werke schon. Viele davon kann man sich längst aus dem Netzt herunterladen. Haben Sie Angst vor dem Verschwinden des gedruckten Buches?

Enzensberger: Nein, absolut nicht. In der Mediengeschichte war es eigentlich immer so, dass ein Medium auf das andere wie eine Tortenschicht gepackt worden ist. Das Telefon gibt’s zum Beispiel immer noch. Wir haben inzwischen Email, Twitter und wie das alles heißt. Trotzdem gibt es immer noch Leute, die telefonieren. Es gibt sogar noch einen Briefträger, der die Post austrägt. Gutenberg rückgängig zu machen, ist eine unvorstellbar schwierige Aufgabe. Und die Sache mit dem Urheberrecht sehe ich auch mit Gelassenheit. Mich stört da gar nicht so sehr, was man so Raubkopie nennt, die Illegalität. Was mich stört, ist eine gewisse Schäbigkeit, ist diese Schnäppchenmentalität. Ich würde sogar sagen, in dieser ganzen so genannten Netzgemeinde gibt es viel Spießigkeit, Leute, die den Ausverkauf betreiben, alles muss billig sein. Sehr unangenehm.

Ulrich Wickert: Die Piraten wollen das Kopieren im Internet kostenfrei machen. Sie akzeptieren nicht, dass es ein geistiges Eigentum gibt.

Enzensberger: Den Begriff des geistigen Eigentums kann man durchaus infrage stellen. Was heißt denn das? Muss der Schutz erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers wegfallen? Es gibt auch Ausnahmen. Es gibt Zitatrechte. Es gibt Schulbücher, alles Mögliche. Ich bin kein Dogmatiker. Ich kann auch nicht sagen, dass ich da gleich in Existenzangst verfalle. Es ist mehr eine Frage der Mentalität. Diese Piraten-Mentalität hat etwas Schäbiges, Kleinkariertes. Das gefällt mir nicht.

Ulrich Wickert: Da gibt es noch eine zweite Forderung von den Piraten: die nach Transparenz in der Gesellschaft. Sie lachen.

Enzensberger: Ja, da lache ich schon. Für Transparenz sorgen ja nicht nur irgendwelche Wikileaks-Leute, sondern die gezielte Desinformation, die Kontrollüberwachung, die Datensammlung von Großkonzernen sorgen auch für eine Art von Transparenz. Nur ist es die Transparenz, die hier gemeint wird? Oder ist das nicht vielmehr eine Orwellsche Veranstaltung?

Ulrich Wickert: Transparenz kann auch bedeuten, ich möchte an politischen Entscheidungen stärker beteiligt sein und mehr über sie wissen. Das ist natürlich berechtigt. Der Bürger kann wählen, aber er geht schon häufig nicht mehr in eine Partei, weil es da so verkrustete Strukturen gibt.

Enzensberger: Ja, gut. Ich verstehe diesen Wunsch. Nur ich weiß nicht, ob die politische Sphäre nicht definitionsgemäß so beschaffen ist. Es gibt immer Leute, die regieren. Und dann gibt es die Regierten. Die Regierer haben kein Interesse daran, dass man alles über sie weiß. Das ist doch äußerst lästig. Stellen Sie sich vor, Sie sind Politiker, und alle wollen zuhören, was Sie da im Hinterzimmer besprechen, diese ganzen Mauscheleien, die Personalquerelen, wie sie sich gegenseitig vors Schienbein treten. Das soll jetzt alles öffentlich sein? Nichts könnte einem Politiker weniger Spaß machen. Leute, die diesen Beruf ergreifen, wissen doch genau, worauf sie sich einlassen. Und wie es den Grünen nicht erspart geblieben ist, wird es auch den Piraten nicht erspart bleiben, sich an diese Verhältnisse anzupassen. In dem Moment, wo sie in diese Sphäre eintreten, geht der ganze Zirkus von vorne los.

Ulrich Wickert: Und so wird auch die ach so schöne Transparenz schließlich mit Abzählreimen enden…

Enzensberger: Genau! Ene, mene Muh, und raus bist Du!