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„Ein hochgebildeter Mensch – aber er lebt fernab von jeder Realität!“
24.08.2024, Süddeutsche Zeitung
Das sagt Ulrich Wickert über Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Der langjährige Chefmoderator der „Tagesthemen“ schreibt in seinem Buch „Salut les amis“ mit ansteckend guter Laune eine verblüffende Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen.
Es gibt Bücher, die den Geist der Zeit einfangen, obwohl sie es ursprünglich gar nicht vorhatten. Als Ulrich Wickert die Arbeit zu seinem neuen Buch über die deutsch-französischen Beziehungen begann, saß Präsident Emmanuel Macron noch einigermaßen fest im Sattel, hatte die Ampelkoalition noch Pläne, Joe Biden peilte seine zweite Amtszeit an und die Olympischen Spiele in Paris waren noch ein fernes Wagnis. Im Westen also nichts Neues.
Man konnte daher im Januar 2023 auf die Geschichte zurückblicken, ohne zu ahnen, welche brisanten Wendungen die deutsch-französische Nachrichtenlage noch nehmen würde. Damals bat der Präsident des Landtags von Rheinland-Pfalz, Hendrik Hering, ebenso frankophil wie geschichtsbewusst, Ulrich Wickert um eine besondere Rede für den Gedenktag der Befreiung von Auschwitz in der Konstantin-Basilika zu Trier: Er sollte das Gedenken verbinden mit dem Fortschritt der deutsch-französischen Beziehungen und seiner eigenen Biografie. Die Arbeit an diesen Themen ging aber auch nach der Trierer Rede weiter, denn die deutsch-französischen Beziehungen sind ein roter Faden der Zeitgeschichte, und Wickert hat während seiner Arbeit als Journalist die wichtigsten Momente selbst miterleben dürfen, vom seltsamen Freundespaar Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt bis zum Staatsbesuch von Macron bei Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai dieses Jahres.
Nun erscheint dieses reflektierende und inspirierende Buch genau in jenen Tagen, in denen mal wieder alle in Europa zum Élysée-Palast schauen, um irgendwie zu verstehen, was in Frankreich vor sich geht. Nach einem mit Bravour absolvierten Staatsbesuch in Deutschland und erwartbar schwachen Europawahlergebnissen hat Macron die Öffentlichkeit mit der Auflösung der Nationalversammlung und der Terminierung von Neuwahlen geschockt.
Als Scholz im Mai Macron empfing, war die politische Situation noch eine andere. Ulrich Wickerts Blick erstreckt sich aber ohnehin über Jahrzehnte. FOTO: DPA/IMAGO
Kurz zuvor hatte sich Wickert noch mit dem Präsidenten unterhalten: „Der ist ein hochgebildeter Mensch – aber er lebt fernab von jeder Realität!“ Die Belege dafür entnimmt Wickert nicht nur seinen Gesprächen mit ihm, sondern auch dem Buch „Révolution“, das der Kandidat Macron Ende 2016 veröffentlichte. Dort beschreibt er, wie er als Kind und Jugendlicher die Welt an der Seite seiner Großmutter erforscht, nämlich lesend: Die Schönheit der Blumen nahm er nicht im Garten wahr, sondern in den Gedichten von Pierre de Ronsard. Und in dieser Tradition, die Welt als eigenes Kopfkino zu betrachten, erklärt sich auch die einsame Entscheidung der Parlamentsauflösung. Und seitdem sucht Frankreich nach einer neuen Regierung. Wickert lacht: „Elf Fraktionen in drei politischen Blöcken – wie soll das gehen? Wer soll im Oktober den Haushalt ins Parlament einbringen?“ Eines hingegen weiß Wickert genau: „Die Forderung des Linkstrumpisten Mélenchon, Macron solle abgesetzt werden oder selbst zurücktreten, ist Quatsch. Macron wird sein Amt bis zum letzten Tag seines Mandats ausüben.“
Die Spannung über die politischen Ereignisse in Frankreich ist auch hierzulande sehr groß. Im Juni hielten auch im politischen Berlin alle die Luft an, als eine rechtsextreme Regierung in Paris drohte. Dieses Mitfiebern ist der beste Beleg für die Intensität der deutsch-französischen Beziehungen in allen relevanten Subsystemen. Ob in der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik – ein Land ist einfach zu klein, um eine bedeutende Rolle in der Welt wahrzunehmen. Heute sind beide Länder auf Hunderte Arten miteinander verbunden – über die Währung, das Deutsch-Französische Jugendwerk, den Sender Arte und zig regionale und kommunale Kooperationen und Institutionen – aber Wickert beginnt seine Betrachtungen mit der Zeit seiner Jugend, als das noch alles in ferner Zukunft lag.
Damals wäre man ausgelacht worden, wenn man eine solche Annäherung vorhergesagt hätte. Denn im Heidelberg seiner Jugend war die Erinnerung noch anzutreffen an die Zerstörungen und Gräueltaten, die die Armee Ludwigs XIV. hier begangen hat: „Manchmal hörte ich, wie eine Dame ihren Hund Melmac rief – nach dem Namen des Generals, der damals die Zerstörung des Schlosses von Heidelberg befohlen hat. Das war Ende des siebzehnten Jahrhunderts. So lange hat es gebraucht, die Vorstellung von der Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland zu überwinden.“
Wickerts Betrachtungen sind informativ und inspirieren zu einem frischen Blick auf die Gegenwart
Das Thema des Buches weist über seinen Gegenstand hinaus: Es geht nicht nur um die Besonderheiten im Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen, sondern es ist vor allem die Beschreibung eines Prozesses, um solche historischen und kulturellen Feindschaften wieder aufzulösen. Wickert ist ein Zeitzeuge der wichtigsten Momente dieser Entwicklung, hat alle Präsidenten und alle Kanzler kennengelernt. Und in seiner Erzählung der Begegnungen, den vielen Porträts der beteiligten Personen, ist ein Muster zu erkennen, eine Routenbeschreibung, wie so etwas möglich ist, wie aus Feinden Freunde werden. Es handelt sich dabei um ein Experiment, das alle paar Jahre unter neuen politischen Vorzeichen, mit neuen Persönlichkeiten realisiert werden muss.
Die jeweiligen Personen müssen ihre Rolle immer erst finden, kaum ein exekutives Tandem harmoniert auf Anhieb. Wer hätte erwartet, dass ein François Mitterrand, der Sozialist, mit dem Sozialdemokraten Helmut Schmidt so gar nicht klarkommt? Dabei sind sich die beiden in der damals brisanten Frage der amerikanischen Mittelstreckenraketen, der berüchtigten Pershing-II-Raketen, einig. Aber als Schmidt die beiden Esel des Präsidenten, die er auf seinem Landhaus in Latche hielt, beleidigt, war der Spaß vorbei.
Mitterrand konnte dann viel besser mit dem Christdemokraten Helmut Kohl. Aber dieses Duo brauchte, um derart historisch einmalig zu funktionieren, ein zweites, nämlich das Zusammenspiel aus den beiden damaligen Außenministern Hans-Dietrich Genscher und Roland Dumas. Diese beiden sind viele Dinge auf einmal: Idealisten, Pragmatiker und Trickser. Wickert schildert ihre Beziehung und ihre Einfälle mit ansteckender Begeisterung. In diesen Passagen kann man viel lernen, denn die beiden entfalten ein ganzes Arsenal, um Hindernisse zu überwinden und Kontakte wiederzubeleben. Sie machen es sich zur Gewohnheit, jeden Sonntagnachmittag miteinander zu telefonieren, und wenn sich die Politik mal verhakt, steigt Genscher mal eben ins Flugzeug. Wickert war damals ARD-Korrespondent in Paris und baute sich geduldig ein Netzwerk auf – so erfuhr er von einem diskreten Treffen zwischen Dumas und Genscher und durfte, weil er schon mal vor Ort war, auch lauschen. Und staunte nicht schlecht, wie Genscher über seinen Chef, den Kanzler sprach, den er nämlich auf gut Französisch als le con titulierte, das Arschloch.
Diese Betrachtungen sind nicht nur informativ, sie inspirieren auch zu einem frischen Blick auf die Gegenwart. Denn wenn eines die Akteure der deutsch-französischen Beziehungen auszeichnet, dann ist es die Bereitschaft, Risiken einzugehen und immer neue Wege zu suchen. Wenn mal gar nichts mehr ging zwischen Kanzleramt und Élysée-Palast, was öfter vorkam, als es die offiziellen Darstellungen vermittelten, wurde etwa auf den Blaesheim-Prozess zurückgegriffen. Der Name des kleinen Ortes ist ein Symbol für längere Treffen ohne Tagesordnung und im kleinsten Kreis, wie sie erstmals in einem Drei-Sterne-Lokal in diesem elsässischen Dorf stattfanden. Die Voraussetzung dafür, dass solche Improvisationen gelingen, ist eine profunde Kenntnis der Kultur und der Identität des Nachbarlandes. Hier können die unterschiedlichen Kommunikationskulturen recht trickreich sein.
Hier kann man lernen, dass es immer besser wurde zwischen Deutschland und Frankreich
Wenn ein französischer Freund keine Lust hat, sich für das Wochenende zu verabreden, erläutert Wickert an einer besonders wichtigen Passage, wird er nicht ablehnen, sondern feststellten: C’est difficile. Grad schwierig. Damit ist aber keine Einladung für eine gründliche Problembeseitigung auf deutsche Art ausgesprochen, sondern es wird lediglich der Wunsch ausgedrückt, kein barsches Nein formulieren zu müssen. Andere Form einer französisch-ausweichenden Absage: Man stellt eine Einladung in Aussicht, aber es folgt nie ein Datum. In Frankreich wird die deutsche Neigung, Dinge mal unverblümt anzusprechen, als grob und wenig elegant empfunden. In den Porträts von Wolfgang Schäuble in seiner Zeit als deutscher Finanzminister und seinem französischen Counterpart Michel Sapin geht es besonders viel um diese Feinheiten der Kommunikation. Umso erstaunlicher ist es, in diesem Buch zu erfahren, dass einige solche Missstimmungen auf Pannen zurückzuführen sind, wenn die politische Ebene sich von der Verwaltung Dinge in Reden oder Texte schreiben lässt, die, wie der deutsch-französische Flugzeugträger, den Annegret Kramp-Karrenbauer mal erwähnt hat, gar nicht praktikabel sind.
Es ist eine zutiefst humanistische Geschichte, die Ulrich Wickert in diesem Buch erzählt, und daher ist es eben nicht nur eine Eloge auf die guten alten Zeiten, sondern eben eine nuancierte Betrachtung von Risiken und Nebenwirkungen und letztlich auch eine Meditation darüber, auf was es im Leben wirklich ankommt. Die deutsch-französische Freundschaft ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, an der Millionen Menschen mitgewirkt haben und weiter wirken. In diesem Buch geht es darum, wie so ein Erfolg möglich ist, was ihn gefährdet und darum, was ganz generell Menschen zusammenführt, nachdem Hass und Ideologien sie entzweit haben.
Man hat sich daran gewöhnt, viel über negative Entwicklungen zu lesen, sich Sorgen zu machen und täglich mit Hass und Hetze konfrontiert zu werden, wenn man sich in den asozialen Netzwerken tummelt. Aber hier kann man lernen, dass es immer besser wurde zwischen Deutschland und Frankreich – der Untergang des Abendlandes fand nicht statt. Mit seinen zahlreichen Schauplätzen, den Reisen in vergangene Zeiten und den Porträts schillernder Figuren gerät dieses Sachbuch zu einem großen Panorama der europäischen Bühne, bei dem man auch für das eigene Leben viel lernen kann. Wickert beschreibt mit ansteckender guter Laune eine verblüffende Geschichte, deren Moral frei nach Kamala Harris lautet: Es gibt kein Zurück.
Von Nils Minkmar