Ulrich Wickert

Artikel von mir

Einblicke in eine verletzliche Seele

31.01.2009, welt.de

Ulrich Wickert unterhält sich mit Günter Grass über Obsessionen, Deutschland und sein Tagebuch des Schicksalsjahrs 1990, das jetzt erscheint

In diesem Jahr ist der Teich nicht ausgelassen worden. Aber damals, 1990, schreibt Günter Grass in sein Tagebuch, da wanderten Karpfen in die Küche, Forellen zu Dutzenden landeten im Netz, nur die Aale hatten sich im Schlamm versteckt. In diesem Januar nieselt es, kalt bläst der Wind, den der Wald neben dem Haus am Elbe-Lübeck-Kanal lediglich ein wenig einfängt. Aber wohlig warm ist es in der ehemaligen Remise rechts neben dem Wohnhaus bei Behlendorf in Schleswig-Holstein.

Vier verschiedene Arbeitszimmer dienen dem ruhelosen Schaffer für die Arbeit an seinen unterschiedlichen Künsten. Zwei zum Schreiben, zwei zum Gestalten. Oben, unter dem Dach, zeichnet er, radiert, sticht Kupfer. Unten steht die Drehscheibe für den Ton. Und das Stehpult für die Feder. Günter Grass schreibt mit Tinte. Im Vorübergehen werfe ich einen Blick auf das Stehpult. Darauf liegt eine große Kladde, vollgeschrieben mit grüner Tinte in der schönen, eindrucksvollen Schrift von Günter Grass.

Ende 1989 hat der Verleger Gerhard Steidl Günter Grass einen Blindband geschenkt. Eine große dunkelgraue Kladde mit leeren Blättern. Heimliche Anregung zum Zeichnen? Darin entsteht aber das Tagebuch, das im Januar 1990 in Portugal beginnt. In der Wärme, wo Günter Grass Kakteen pflanzt. Kauft er einen Sankt Peterfisch, dann zeichnet er ihn, bereitet ihn mit Salbei zu, und nach dem Schmaus mit Freunden bannt er die Gräten aufs Blatt. Macht ihn seine Frau Ute auf eine kiloschwere Unke im Garten aufmerksam, die eine Schlange vergeblich verschlingen will, dann landet auch sie auf dem Papier. Von Unkenrufen fantasiert er. Das könnte ein Buch werden. Von Alexander und Alexandra, die in Polen einen Friedhof einrichten, für Deutsche, die einstmals in Danzig geboren wurden.

Das Buch könnte aber auch „Krebsgang“ heißen, verrät das Tagebuch. Denn, so Grass heute: „Dieser Titel schwirrte schon längere Zeit bei mir herum“. Nur fehlte ihm das passende Buch. „Krebsgang“ als Titel beschreibt einen Schreibvorgang, dieses Getier, das vermeintlich wie rückwärts kriecht oder seitlich ausschert, kommt dennoch voran. Und dieses Ausweichen in die seitlichen Bewegungen liegt mir sehr, beim Schreiben auf verschiedenen Zeitebenen, auf verschiedenen Bewusstseinsebenen, beim Schreiben aus verschiedenen Perspektiven. Das ist sicher auch in „Unkenrufen“ drinnen. Aber da war der Titel dann doch der bessere. Und „Krebsgang“ hat später seinen Stoff gefunden. Da passte der Titel hin.

Zwei Mikrofone haben die Toningenieure auf dem Holztisch in der Bibliothek aufgebaut und Leitungen in den Aufzeichnungswagen gelegt. In einer Ecke lässt sich der mitgefahrene Redakteur, der die Aufzeichnung begleitet, diskret nieder. Ute Grass hat starken Kaffee gekocht und sich zurückgezogen. Immer wieder wird man in der Rundfunksendung hören, wie ein Streichholz angezündet wird, mit dem Grass den Tabak in der Pfeife glühend hält, der für ihn nun einmal unverzichtbar ist.

Was hat Grass Anfang Januar 1990 bewegt, ein Tagebuch zu beginnen? Denn er hat nur einmal, zu der Zeit des Bundestagswahlkampfes 1969, als er für die SPD trommelte, Tagebuch geführt. Damals fühlte er, dass sich politisch etwas verändern könnte, und zwar auf demokratische Weise, und daraus entstand dann „Das Tagebuch einer Schnecke“. Und – viele Jahre später – verwandelte er seine Tagebuchnotizen aus Kalkutta zu „Zunge zeigen“. „Und nun 1990“, so sagt Grass, „kurz nach dem Mauerfall, änderten sich die Dinge in Deutschland. Man wusste noch nicht, in welche Richtung, in welche Form hinein. Die Fragen schienen noch offen zu sein zu diesem Zeitpunkt. Das war für mich der Anlass, Tagebuch zu führen, zumal ich auch vorhatte, diesen Prozess zu begleiten, also in diese entstehenden neuen Bundesländer zu fahren, in die untergehende DDR. Das Ende der Diktatur.“

Kurz vor dem 1. Januar 1990 kommt ein junger Mann auf dem Hamburger Hauptbahnhof auf Günter Grass zu, nennt ihn einen Vaterlandsverräter, geht weiter, schlendert wieder zurück und kündigt an, dass es nun Zeit sei, mit seinesgleichen aufzuräumen. Wie lang hat ihn das vergrätzt? Grass: „Das war für mich überraschend. Ich kannte bis jetzt die verbalen Angriffe meistens aus Zeitungen, wo ich mich in den Jahren zuvor kritisch über die Bonner Verhältnisse geäußert hatte. Da hieß es dann, ich solle doch hingehen, wo es angeblich besser ist, das heißt in die DDR. Das war so der beliebte Vorwurf, den man zu hören bekam. Nun kam dieser junge Mann… Später wiederholte sich das während einer Eisenbahnfahrt. Es waren diese Anzeichen von neuem aufmüpfigen, unverschämten, offen auftretendem Rechtsradikalismus, die beunruhigten.“

Das Ereignis vom Hamburger Bahnhof hat Grass beeindruckt. Und so wird es denn auch am Beginn seiner „Kurzen Rede eines vaterlandslosen Gesellen“ stehen, die er im Januar 1990 noch in Portugal skizziert, um sie im Februar in der Evangelischen Akademie in Tutzing vorzutragen. Darin spricht er sich für eine Konföderation der beiden deutschen Staaten aus, die von einer verfassungsgebenden Versammlung beschlossen würde. Damit stand er damals nicht allein. Von einer Vertragsgemeinschaft hatte auch noch Helmut Kohl in seinem Zehn-Punkte-Programm im November ’89 gesprochen. Doch der Zusammenbruch der DDR weckte so enorme Gefühle, dass sachliche Überlegungen zu emotionaler Ablehnung führten. Der Zug war abgefahren. Wie viele anderen, nicht nur im Ausland, fürchtete sich Grass 1990 vor einem deutschen Zentralstaat. Heute meint er: „Es ist eine Befürchtung, die ich später revidiert habe. Der Föderalismus in Deutschland war Gott sei Dank so stark, oder hat sich als so widerspenstig erwiesen, dass diese Befürchtung nicht eingetreten ist. Mit anderen Worten, Berlin ist genauso Provinz wie Mainz oder München oder Hamburg.“

Schon bald verzeichnet das Tagebuch “den jähen Wunsch, bei den portugiesischen Kakteen sein zu dürfen“ und ein paar Tage später auch das „Bewusstwerden der Vergeblichkeit meiner politischen Anstrengungen“. „Das kann nicht mein Land sein“, klagt Grass, erkennt immer wieder eine wachsende Distanz zum „großen“ Deutschland, ja einmal vertraut er der Kladde an: „Alles läuft bei mir auf einen Abschied oder Distanz hinaus“. Distanz zu Deutschland, aber auch zur SPD, die zu verlassen er ebenso überlegt.

Noch nie hat Grass einen derartig tiefen Blick in seine Seele zugelassen wie in diesem Tagebuch. Seine Freude beschreibt Grass, wenn er nach Hause zu Ute fährt oder bis spät in der Nacht mit ihr vor dem Kamin geredet hat. Seine Liebe zu den Kindern. Und die Qual, dass er die Jüngste, die vergötterte Nele, nur treffen kann, wenn seine Frau Ute nicht dabei ist. Neles Mutter verbietet es ihm. Nur einmal ärgert er sich, als einer der älteren Söhne mit einem Bauch auftaucht, so als gehöre sich das nur für einen Vater.

Günter Grass zweifelt immer wieder an sich selber. Wer ist er eigentlich, fragt Grass, Deutscher oder Pole? Zigeuner nennt er sich, staatenlos, europäisch. Aber ist seine Angst nicht sichtlich geprägt von seiner deutschen Identität? Grass heute: „Ja natürlich. Für mich sind die deutsche Sprache, und auch die deutschsprachige Kultur – ich will das nicht an Grenzen festmachen – die Grundlage meiner Existenz. Und ich hänge an dem Land und bezeichne mich im Habermas’schen Sinne als Verfassungspatriot. Kommt hinzu, dass ich einer Generation angehöre, die geprägt von der Nazi-Zeit Lektionen aushalten musste, viele Lektionen, auch harte Lektionen. Also am Kriegsende mit siebzehn Jahren galt es zu lernen, wie wir alle haben Demokratie lernen müssen. Wir sind eine Schul-Demokratie in den ersten Jahrzehnten gewesen.“

Im Frühsommer verbringt er viel Zeit vor dem Fernsehapparat und schaut sich die Spiele bei der Fußballweltmeisterschaft an. Mal hält er die Daumen für die Tschechen, wünscht, die Argentinier könnten dem Falklandkrieg eine andere Wendung geben durch einen Sieg mit dem Ball gegen England, sorgt sich plötzlich um die deutschen Spieler, drückt ihnen die Daumen bei englischen Chancen. Das war 1990. Und wie sieht er heute das deutsche Sommermärchen 2006? Plötzlich wurde die deutsche Fahne zum Symbol der Freude. Grass: „Also zuerst einmal fand ich das ganz wunderbar. Wie sich das völlig unorganisiert, ohne deutsche Leitkultur, von sich aus entwickelte. Ich bin ja bei einigen Spielen dabei gewesen und habe gesehen, wie ein Säugling im Kinderwagen lag, einen in Nationalfarben gefärbten Schnuller im Mund. Die Frisuren waren entsprechend. Das alles ist wunderbar leichtfüßig dahergekommen und hat sich spontan entwickelt. Und ist dann überinterpretiert worden.“ Aber hat er nicht selber beim Halbfinale einen Schal in deutschen Farben getragen? Grass: „Jaja, ich habe da ja mitgemacht! Ich bin ja Deutscher… Ich sage nur, es ist hinterher auch aus politischem Interesse überinterpretiert worden. Als ein neues Nationalgefühl.“

Wie ein roter Faden, der nicht abzureißen droht, entwickelt sich von Tag zu Tag die Erzählung „Unkenrufe“. Mal kann Grass nachts nicht schlafen, denkt bis in den frühen Morgen über die Idee des deutsch-polnischen Friedhofs nach. Holt den Schlaf am Vormittag nach.

Ständig tut er etwas. Grass sucht die Erzählperspektive, fantasiert über die Handlung: „Das ist jedes Mal eine andere Perspektive. Wenn ich beim Schreiben vor etwas Angst habe, dann ist es die Angst, Doubletten zu schreiben. Es ist immer ein neuer Ansatz, ein neuer Versuch, wie jetzt auch beim autobiografischen Schreiben. „Beim Häuten der Zwiebel“. Das ist ein ganz anderer Ansatz als bei der „Box“. Da hat es mich auch gereizt, ein dialogisches Buch zu schreiben. Den Chor der Kinder zum Sprechen zu bringen… Natürlich passiert alles im Kopf des Autors, des Vaters.“

Mit den „Unkenrufen“ will Grass seine Bücher, die in Danzig spielen, beenden. Doch es folgt mehr als ein Jahrzehnt später noch „Im Krebsgang“. War das nun das letzte? Grass: „Das weiß ich nicht. Ich habe ja schon bei der „Blechtrommel“ gesagt, es ist genug mit Danzig. Das war nicht so. Kaum hatte ich die „Blechtrommel“ fertig, begann die Vorarbeit zu „Hundejahre“ und zu „Katz und Maus“. Es ist ein Stück Schreibobsession und hängt wahrscheinlich mit dem Verlust von Heimat zusammen. Ich habe einmal mit Salman Rushdie darüber ein Gespräch geführt… Und ohne dass wir uns da verabredet hatten, waren wir auf einmal beide auf einem ähnlichen Pfad. Er im Verhältnis zu Bombay und ich im Verhältnis zu Danzig. Etwas, was man verloren hat. In meinem Fall absolut verloren hat. Es ist heute Gdansk. Und hat eine ganz andere Bevölkerung. Auch Flüchtlinge, die aus Wilna und aus Grodnow gekommen sind. Wenn etwas so verschwunden ist, dann bietet die Literatur, das Schreiben, eine Möglichkeit, es wieder entstehen zu lassen. Das hat mich bis heute nicht losgelassen.“

Je weiter Grass die „Unkenrufe“ entwickelt, desto häufiger schleichen sich neue Buchgedanken ein. Über die Fotografin Maria Rama – „Mariazuehren“ – sei auch ein Buch zu schreiben. Und über die Treuhand. Aber das dauere sicher fünf Jahre. Einen ersten Satz für die „Unkenrufe“ schreibt er nieder. Sogar schon einen für das Treuhand-Buch. Beide aber werden seinen Ansprüchen nicht gerecht. Beide Bücher beginnen anders. Aber was macht die Suche nach diesem ersten Satz so wichtig. Die Angst vor dem leeren Blatt Papier? Grass: „Der erste Satz muss, in Kürze – so ist das bei einem ersten Satz – das Spannungsfeld des noch zu Schreibenden aufreißen, die Problematik des Ganzen. Den Konflikt, der da drin liegt. Nehmen wir den „Butt“. Da geht es los mit: „Ilsebill salzte nach.“ Das ist ein Satz, nach dem ich lange gesucht habe. Und lange gesucht habe ich auch nach den ersten Sätzen bei den „Unkenrufen“ und der „Treuhand“.“

Mit einem Ausblick auf das kommende Jahr endet das Tagebuch 1990 von Günter Grass: mit dem Jahresplan für 1991. Stellt er solche Pläne jedes Jahr auf? Grass: „Ja. Ich ziehe Bilanz, was ich gemacht habe, was ich mir im Vorjahr vorgenommen hatte, was ich erreicht habe, was dazu gekommen ist, was weggefallen ist. Was ich vielleicht wieder aufnehmen sollte. Und dann schreibe ich auf, was ich mir vornehme. Da ich ein arbeitsbetonter Mensch bin, mir immer noch was einfällt, gehört dies zu den Penibilitäten meiner Jahre.“

Da fällt mir die grüne Schrift in der Kladde ein, die ich beim Eintreten auf seinem Stehpult liegen sah. Wie sieht denn der Jahresplan für 2009 aus? Grass: „Mehrere Dinge. Zeichnen in Kleinformaten. Dann ist ein neues Manuskript in Arbeit, über das ich nicht rede. Und dann wird dieses Jahr ein Wahlkampfjahr sein, und, so wie ich mich kenne, mit all den Bedenken und all der Kritik, werde ich mich wieder für die Sozialdemokraten ins Zeug legen.“

Vielleicht wird dieser Besuch nun auch im Tagebuch stehen. Denn seit 1990 hat Günter Grass jedes Jahr einen neuen Blindband von seinem Verleger erhalten und weitergeschrieben. Bis heute.

Von Ulrich Wickert / Quelle: www.welt.de