Ulrich Wickert

Artikel von mir

Eine Art von Glück

02.10.2009, Literarische Welt

Ulrich Wickert im Gespräch mit Siegfried Lenz über Macht, Konditorei, die Freuden des Schreibens und über seine gerade erschienene neue Novelle „Landesbühne“

Ulrich Wickert: Ihr neues Buch ist eine Novelle. Um welche „unerhörte Begebenheit“ geht es darin?

Lenz: In einem idyllisch anmutenden Gefängnis in Isenbüttel erscheint die Landesbühne.

Ulrich Wickert: Wie kamen Sie darauf?

Lenz: Als Schriftsteller schreibt man immer im Sinne einer permanenten Wahrnehmung, einer Wahrnehmung von Begegnungen, von Gesprächen, von Informationen. Und so habe ich mir überlegt, was geschieht in einem kleinen Gefängnis, wenn die Insassen konfrontiert werden mit den Problemen der Welt?

Ulrich Wickert: Wie lange haben Sie dieses Thema mit sich herumgetragen?

Lenz: Bestimmt ein Jahr.

Ulrich Wickert: Die Hauptfigur ist, ganz aktuell eigentlich, ein Professor namens Clemens, der gegen ein bisschen Schmusen seine Studentinnen gut durchs Examen kommen lässt. Hat die Aktualität Sie da beeinflusst?

Lenz: Ich habe dieses Buch lange bevor ich in der Zeitung las, was einigen Professoren unterlaufen ist, geschrieben und meinem Verlag abgeliefert.

Ulrich Wickert: Das Hauptwerk des einsitzenden Professors heißt „Sturm und Drang“, und der Professor im Gefängnis erklärt, es gehe in „Sturm und Drang“ auch darum, den Menschen zu befreien. Ist der Mensch unfrei?

Lenz: Selbstverständlich. Durch Biografie, durch die soziale Situation, durch Konventionen. Insofern versuchte ich in Übereinstimmung mit meiner Erfahrung, den Professor dahin zu bringen, sich selbst einzugestehen, was er kann und was nicht.

Ulrich Wickert: Stellen Sie sich in der Frage der Freiheit auf Seiten Schillers gegen Goethe?

Lenz: Nein. Ich ergreife Partei für den erfundenen Professor Clemens.

Ulrich Wickert: Und dann wird „Der zerbrochene Krug“ zitiert. Warum?

Lenz: Weil „Der zerbrochene Krug“ eine häufig gespielte Theaterfreude ist, besonders wenn Landesbühnen unterwegs sind und das Stück auf Dörfern oder in kleinen Städten aufführen. Ein wunderbar unterhaltsames, auch ein tiefsinniges Stück.

Ulrich Wickert: Einmal lassen Sie den Vertreter des Bürgermeisters sagen: „Fantasie an die Macht“. Das war ja der Spruch der rebellierenden Studenten in Paris. Eine heimliche Sympathieerklärung?

Lenz: Nein. Ich glaube, dass wir, wenn wir die politische Situation betrachten, uns eingestehen müssen, mit Fantasie allein können wir die Aufgaben nicht lösen. Denn dazu gehört mehr. Sehr viel Kenntnis, sehr viel Arbeit, sehr viel Bereitschaft zum Risiko, sehr viel Bereitschaft zu neuen Ideen, dazu, Widerstände zu überwinden.

Ulrich Wickert: In „Fantasie an die Macht“ steckt auch das Wort „Macht“. Was ist für Sie Macht?

Lenz: Die Beliebigkeit des Wirkens, die Beliebigkeit des Handelns, manchmal nur eingegrenzt, aber auch im eingegrenzten Sinne. Die Beliebigkeit, wählen zu können. Entscheiden zu können.

Ulrich Wickert: Wie stehen Sie zur Macht?

Lenz: Sehr günstig. Ich habe die Macht, etwas zu erfinden, etwas zu schreiben, was anderen nicht behagt. Ich habe die Macht zu sagen, hier endet das Buch. Auf meinem Feld Macht auszuüben macht mir mitunter Spaß. Und es schafft, so seltsam es Sie anmuten mag, Genugtuung zu sagen: „Heute schreibe ich nicht“.

Ulrich Wickert: Wenn Sie Leute im Bus der Landesbühne aus dem Gefängnis fliehen lassen, macht Ihnen das Spaß?

Lenz: Ja. Und wenn ich feststelle, dass es auch in Extremsituationen komische Aspekte gibt, dann lache ich am Schreibtisch. Ich lache oft so, dass Ulla beispielsweise sagt: „Hat der Junge eine Macke?“ Aber ich muss einfach. Das kann man auch als geglückte Selbstunterhaltung sehen. Aber sei es drum.

Ulrich Wickert: Sind Sie auch beim Schreiben traurig? Wie war das bei „Schweigeminute“?

Lenz: Merkwürdigerweise nicht oder nur ganz wenig. Tränen sind mir noch nie geflossen.

Ulrich Wickert: Was bedeutet Theater für Sie?

Lenz: Möglichkeiten, etwas zu erkennen. Möglichkeiten wunderbarer Unterhaltung, Möglichkeiten zu protestieren, mich zu amüsieren. Es ist ein ungeheuer vielfältiges Angebot, das Theater. Großartig!

Ulrich Wickert: Das Letzte, was Sie geschrieben haben, war ja ein Theaterstück. Warum haben Sie diese Form genommen? Ist da für Sie der Dialog das Wichtige?

Lenz: Der Dialog, weil alle Kundgabe des Charakters, der Erfahrung usw. sich ja nur im Dialog äußert und im Dialog ausgetragen wird. Es hat mir immer Spaß gemacht, Dialoge zu schreiben.

Ulrich Wickert: In „Landesbühne“ gibt es die Szene, in der Hannes, einer der Ausgebrochenen, ein Heimatmuseum in Grünau gründet. Ein ironisches Selbstzitat?

Lenz: Genau. Ein Heimatmuseum, das er zwar nicht als Direktor leiten wird. Aber immerhin langt es zum Hausmeister. Es macht ihm Freude, und er tut es, weil ich es so will. Das ist auch eine Auswirkung der Macht.

Ulrich Wickert: Das Ganze ist ja ein sehr bürgerliches Ensemble. Grünau – das ist der Ort, wo die Gefangenen mit dem Bus der Landesbühne hinfahren – besteht aus dem Stadthaus, bekommt sein Heimatmuseum, wo Hannes dann Hausmeister werden möchte, die Volksschule, wo Professor Clemens Vorträge hält. Es kommt der Musikzug, Fußball wird gespielt, und nicht etwa eine Kneipe, sondern eine Konditorei spielt eine Rolle. Man hat den Eindruck, man lebe ein wenig in der heilen Welt vergangener Jahrzehnte. Es gibt die Probleme, von denen wir heute hören, nicht.

Lenz: Man kann davon ausgehen, dass in der Provinz, in der Kleinstadt ähnliche Probleme bestehen wie in der Großstadt. Und man kann das, was in New York City passiert, in einem kleinen Ort in Alabama auch erfahren und erleben. Ich habe mich immer dagegen gesträubt, die Großstadt, das Zentrum, als die Möglichkeit anzusehen, in der allein die weltbewegenden Probleme aufzufinden sind. Auch in dieser kleinen Stadt, in Grünau, die natürlich fiktiv ist, wie viele meiner Charaktere fiktiv sind, ist etwas los! Ich muss sagen, mir hat es genügt, dieses Grünau so zu beschreiben. Wenn ich es bilanzieren sollte, ist das eine Kleinstadt, in der ich selbst nicht wohnen möchte.

Ulrich Wickert: Das kann man sich vorstellen. Es gibt ja nun einige Gefangene, die bleiben, aber auch gerne abhauen würden. Die träumen dann von Dänemark. Dänemark, ein kleines Paradies. Ist das auch wieder persönlich gemeint?

Lenz: Ja. Ich habe zu Dänemark eine ausgesprochen innige Beziehung. Ich habe dort dreißig Sommer lang auf der Insel Alsen gelebt und bin heute auch wieder aus Dänemark hierher zu Ihnen gekommen und habe übrigens, weil Sie auf die Konditorei in Grünau anspielen, eine Ehre erfahren, von der ich nie glaubte, dass ich sie je würde erreichen können. Als ich neulich bei Ihren Kollegen im Fernsehen gefragt wurde: „Sie haben doch eine ganze Reihe von Preisen bekommen, auch internationale. Sagen Sie, wenn Sie auf Ihr Wappenschild gucken, fehlt Ihnen da nicht ein Preis?“ Da sagte ich ja. „Sind Sie bereit zu sagen, welcher?“ Ich sagte abermals ja – ich möchte gerne Ehrenmitglied der dänischen Konditorzunft werden! Und in Apenrade wurde ich zum Ehrenkonditor der dänischen Konditorgewerkschaft gewählt.

Ulrich Wickert: Warum wollten Sie denn Mitglied der dänischen Konditorzunft werden?

Lenz: Weil ich erstens, da ich ja dort lange Sommer gelebt habe, die dänischen Kunstwerke der Konditoren, genossen habe. Und nicht zuletzt, weil ich jütländische Kaffeetafeln mit Glück überlebt habe. Denn was Sie bei einer jütländischen Kaffeetafel erleben können, kann nur auf epische Weise dargestellt werden.

Ulrich Wickert: Erzählen Sie!

Lenz: Die Rituale sehen so aus, dass man mit ganz einfachen Doppeldeckerbrötchen beginnt. Dass man sich dann steigert und zu einem gefüllten Kranzkuchen kommt. Dass nach dem gefüllten Kranzkuchen eine Käsetorte kommt. Nach der Käsetorte sogenannte Napoleonschnitten. Und wenn man ganz erschöpft ist und wirklich nur noch müde abwinkt, kommt die Hausherrin und sagt: „Und nun wollen wir unser Kleingebäck genießen.“ Das inspirierende Kleingebäck der dänischen Konditorkunst. Einzigartig!

Ulrich Wickert: Am Anfang Ihres neuen Buches spielt das Ensemble im Gefängnis ein Stück namens „Labyrinth“. Und gegen Ende des Buches spielt es „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett. Verstecken Sie vorne und hinten Ihren Hinweis auf das Absurde im Leben?

Lenz: Genau das.

Ulrich Wickert: Ist denn die Wirklichkeit in Ihren Augen absurd?

Lenz: Zum Teil. Man scheut sich zu erzählen, was einem manchmal widerfährt. Insofern ist es wahr. Ich meine, wenn Vladimir und Estragon sich begegnen, ein Wiedersehen feiern und der eine nur versucht, seinen Schuh auszuziehen, den Schuh betrachtet, den Schuh beklopft, wenn er erwägt, welche Möglichkeit, welche Wanderung er mit ihm macht, nur mit dem Schuh, und den Schuh glaubt lüften zu müssen, was er natürlich nur mit Einspruch tun kann, wissen Sie, das ist natürlich eine weithin ausgespielte Szene, die aber sehr zu denken gibt.

Ulrich Wickert: Sie lassen ja den Intendanten der Landesbühne sagen, „Warten auf Godot“ sei ein Stück der Menschenliebe.

Lenz: Ja.

Ulrich Wickert: Wie das?

Lenz: Die Beiden, Vladimir und Estragon, geben ein Beispiel dafür. Sie sind einander auf unbegreifliche Weise zugetan. Sie kennen ihre Verfehlungen, sie kennen ihre Handicaps, sie wissen, was sie voneinander zu erwarten haben und kommen nicht voneinander los. Sie sind so erfüllt von Trauer, dass die Trauer wahrscheinlich das verlässlichste Band ist, das Menschen zusammenbringt und zusammenhält.

Ulrich Wickert: Aber hält Liebe nicht die Leute mehr zusammen als Trauer?

Lenz: Auf andere Weise, ja.

Ulrich Wickert: Was ist wirklich, was ist die Fälschung? Die Frage stellt sich für mich am Schluss, als der Meisterfälscher in das Gefängnis eingeliefert wird. Zieht sich diese Frage nicht auch durch die ganze Handlung: Was ist wirklich, was ist Fälschung? Warum lassen Sie diesen Meisterfälscher kommen?

Lenz: Seine Bilder hängen in Florenz, in Montevideo, in Paris, überall. Das heißt, in einem so beengten Raum gibt es auch Zeichen von Weltläufigkeit durch Fantasie.

Ulrich Wickert: Und er will Clemens malen! Zum Schluss siegt das Menschliche?

Lenz: Im „Godot“ ist es auch so, sie kommen nicht voneinander los. Aber in diesem Falle ist noch etwas anderes im Spiel: Hannes hat einen Ehrgeiz entdeckt. Er entdeckt auch, dass er etwas nachholen, lesen, sich informieren muss. Das würde ihn hinausheben über das Dasein, das er bisher geführt hat. Und ich glaube, es wird ihm gelingen. Er wird einer sein, mit dem sich Clemens, der große Professor, unterhalten kann. So werden die beiden am Ende auch eine Art von Glück erleben.