Ulrich Wickert

Artikel über mich

Erst Mensch, dann Deutscher

03.02.2020, Sächsische Zeitung

Ulrich Wickert wirbt in seiner Dresdner Rede am Sonntag für ein neues Heimatgefühl und für eine kollektive Identität, die sich nicht nur aus dem Müll der Geschichte erklärt.

Es hat lange gedauert, bis sich Ulrich Wickert unbekümmert eine deutsche Fahne um den Hals hängen konnte. Es passierte im Berliner Olympiastadion beim Viertelfinalspiel Deutschland gegen Argentinien. Das sogenannte Sommermärchen der Fußballweltmeisterschaft 2006 hatte das Schwarz-Rot-Gold als Symbol der nationalen Identität offenbar nicht nur für ihn wieder akzeptabel gemacht. Lachend konnte Wickert die Frage eines Journalisten zurückweisen: Nein, die Deutschlandfahne sei kein Ausdruck von Nationalismus.

Seinen argen Weg bis zu dieser Erkenntnis beschrieb der Autor und langjährige Moderator der „Tagesthemen“ am Sonntag in seiner Dresdner Rede. Die Reden-Reihe wird seit 1992 gemeinsam vom Staatsschauspiel Dresden und von der Sächsischen Zeitung veranstaltet. Wickert fragte nach dem Zusammenhang von Heimat, Herkunft und Sprache, nach den Lehren aus der Geschichte und den Maximen für Zukünftiges. Die Rede wurde mit großem Beifall aufgenommen. Das Schauspielhaus war innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Denn Wickert hat sich nicht nur beim Nachrichten-Flaggschiff der ARD einen Namen erarbeitet, wo er 15 Jahre lang die Welt ins Wohnzimmer brachte und manchem Politiker mit seinen kurzen, scharfen Fragen zusetzte.

Auch seine Bücher machten ihn bekannt, seit er 1981 seinen ersten großen Essay über die Parteiendemokratie in der Bundesrepublik veröffentlichte: „Freiheit, die ich fürchte“. Beinahe sprichwörtlich wurde der Band mit dem ironisch gemeinten Titel „Der Ehrliche ist der Dumme“, der gut zwei Jahre lang auf den Spitzenplätzen der Bestsellerlisten stand. Die moralische Verwahrlosung der politischen Klasse, die er dort kritisiert, ist inzwischen auch ein Thema in seinen Kriminalromanen.

Die Krimis um den charismatischen Untersuchungsrichter Jacques Ricou spielen in Frankreich. Wickert ging ein paar Jahre lang in Paris zur Schule und arbeitete später dort als Korrespondent und Studioleiter der ARD. Als er kürzlich gefragt wurde, welchen Beruf er am liebsten ergriffen hätte, wenn er nicht Journalist geworden wäre, antwortete er: französischer Präsident. Er habe die Franzosen immer beneidet, sagt er in seiner Dresdner Rede, beneidet um ihren selbstverständlichen Nationalstolz, um das unverbrüchliche Bekenntnis zur eigenen Identität. Wenn er sich bei Gesprächen in Deutschland Gleiches für seine Landsleute wünschte, habe er oft Misstrauen und Ablehnung erfahren.

Der Grund für diese Distanzierung vom Deutschsein liegt in den Gräueltaten des Nationalsozialismus. „Wie viel Müll aus der Geschichte schleppen die Deutschen noch mit sich!“, sagt Wickert. Nach dem Bruch in der Geschichte können sie sich nicht unbefangen auf prägende Elemente der Nation berufen. Wer „deutsch“ im Pass stehen hat, so Wickert, gehört zu einem Volk, das den Zweiten Weltkrieg angefangen hat, das die Konzentrationslager und Gaskammern gebaut hat und dessen Armeen Millionen von Kindern, Frauen und Männern erschossen haben. „Es bleibt einem nicht erspart: Man muss lernen, Deutscher zu sein und mit seiner nationalen Identität bewusst umzugehen.“

Auch deshalb sei es ein Unding, dass Schüler in manchen Bundesländern Geschichte als Unterrichtsfach in den oberen Klassen abwählen können. Eine Verdopplung des Unterrichts müsste der Fall sein. „Zum Deutschsein gehört auch das Wissen um die Vergangenheit – mit ihren schlechten, aber auch mit ihren guten Teilen.“ Da genüge es nicht, sich auf die alten Mythen zu berufen, auf Sprache oder Tradition.

Ulrich Wickert war bei Kriegsende zweieinhalb Jahre alt. Er wurde in Tokio geboren, wo sein Vater als Diplomat arbeitete. Nach dem Hungerwinter 1946/47 zog die Familie nach Deutschland zurück, zu einer Tante ins Sauerland, wo noch ein zerschossener deutscher Panzer im Tal stand. Danach ging es weiter nach Heidelberg. Es müsste Ulrich Wickert nichts angehen, was in diesem Krieg passierte. Trotzdem habe er sich geschämt, sagt er, als er in den Sechzigern mit seinem Bruder in einem Pariser Straßencafé saß und eine ältere Französin in kurzärmliger Bluse in der Sonne Platz nahm – mit einer deutlich erkennbaren tätowierten KZ-Nummer auf dem Unterarm. „Wir hatten gerade Deutsch gesprochen. Jetzt verstummten wir. Würde der Klang deutscher Worte diese Frau nicht verletzen?“ Sie seien bald schweigend gegangen. Und noch von einer anderen Begegnung erzählt Ulrich Wickert. „Sie sind der erste Deutsche, mit dem ich seit vierzig Jahren spreche“, hatte eine Frau zu ihm gesagt, die beim Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Klaus Barbie als Nebenklägerin auftrat. Der „Schlächter von Lyon“ hatte ihre Angehörigen gefoltert und ermordet. Ihre Anwälte, so Wickert, hätten dafür gebürgt, dass er selbst ein „anständiger“ Deutscher sei.

An diesen und anderen Beispielen zeigt der Redner auf der Dresdner Bühne, wie sich das Identitätsgefühl durch besondere Ereignisse wandelt. „Die Entwicklung der persönlichen Identität endet nie.“ Als Zeugen in dieser Sache ruft er den Politologen Alfred Grosser auf und den Essayisten Georges-Arthur Goldschmidt. Beide wurden in Deutschland geboren und fanden als Kinder Zuflucht und Rettung vor den Nazis in Frankreich. Der eine hatte noch gelernt, dass Goethe ein großer, aber ausländischer Dichter sei. Der andere hatte Goethe ins Französische übersetzt, während er seine autobiografischen Bücher auf Deutsch schrieb, auch aus Überlebenstrotz. Denn obwohl Goldschmidts jüdische Familie bereits im 19. Jahrhundert zum Protestantismus gewechselt war, galten sie unter den Nazis als „Volljuden“ und wurden verfolgt. Grosser und Goldschmidt, beide über neunzig, beide in Paris zu Hause, engagieren sich heute für die Aussöhnung zwischen den beiden Völkern. Wickert sagt: „Man muss nicht von französischen Eltern abstammen, um eine französische Identität zu erwerben.“ Dann fügt er einen zweiten Satz hinzu: „Man muss auch nicht von deutschen Eltern abstammen, um sich eine deutsche Identität anzueignen.“ Das veranschaulicht er anhand von Gesprächen, die er mit dem Grünen-Politiker Cem Özdemir oder mit dem Filmregisseur Fatih Akin führte. Beide wurden in Deutschland geboren und haben ihre familiären Wurzeln in der Türkei.

Gerade weil sich Ulrich Wickert auch siebzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus noch mit dem Thema der nationalen Identität herumschlägt, will er anderen ein Verharmlosen der Vergangenheit nicht durchgehen lassen: „Es macht mich zornig und wütend, wenn ein Politiker wie AfD-Chef Alexander Gauland sagt, Hitler und die Nationalsozialisten seien ,nur ein Vogelschiss‘ in 1.000 Jahren deutscher Geschichte. Und es ist mir unverständlich, wie man dieser Partei – und sei es aus Protest – bei Wahlen seine Stimme geben kann. Dass es Hunderttausende dennoch tun, beweist, dass in unserem Wertesystem etwas nicht stimmt.“ Es gibt Beifall zu diesen Sätzen.

Wickerts Dresdner Rede ist auch der Versuch, Begriffe wie Identität und Heimat vor Missbrauch und Vereinnahmung zu bewahren. Sie dürften nicht benutzt werden, um einen Teil der Bevölkerung einzuschließen und einen anderen auszuschließen. „Das aber versuchen Rechtsradikale, indem sie Identität rückwärtsgewandt und ethnisch, also völkisch definieren.“ Wickert argumentiert dagegen mit dem Philosophen Jürgen Habermas: „Erst das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu ,demselben Volk‘ macht die Untertanen zu Bürgern eines einzigen politischen Gemeinwesens – zu Mitgliedern, die sich füreinander verantwortlich fühlen können.“

Es ist kein Zufall, dass der Redner, der sich selbst als wertkonservativ beschreibt, diese Überlegung aufgreift und ausbaut. Sie entspricht seiner Lebensmaxime. Als er mit einem Stipendium in den USA studierte, war er auf diese Aufforderung von Präsident John F. Kennedy gestoßen: Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst. An diesem Vormittag in Dresden sagt Wickert: „Ein jeder Bürger muss sich haftbar fühlen für den Zustand seiner Gesellschaft, insbesondere dann, wenn sich undemokratische Entwicklungen andeuten. Wer erkannt hat, dass er haftet, kümmert sich.“

Er wiederholt den eindringlichen Appell, den er anlässlich des Jahrestages der deutschen Einheit an die Zuhörer im sächsischen Landtag gerichtet hatte: Übernehmen Sie Verantwortung für die Gemeinschaft! Setzt euch ein für diese Nation!

Das modernere, zeitgemäßere Heimatgefühl, das Ulrich Wickert beschwört, hat mit diesem Verantwortungsbewusstsein zu tun und mit neuen gesellschaftlichen Entwicklungen nach 1989, weniger mit einem konkreten geografischen Ort und schon gar nichts mit Erde und Scholle. Lieber orientiert er sich an dem französischen Philosophen Charles de Montesquieu. Für diesen Staatstheoretiker der Aufklärung war es zweitrangig, welcher Nationalität ein Mensch angehörte, wo einer zufällig zur Welt kam. Mit Montesquieu sagt Ulrich Wickert: „Wir sind aus Notwendigkeit Mensch, aus Zufall Deutsche.“

Auch die nächsten Dresdner Redner – der Soziologe Hartmut Rosa, die Museumschefin Marion Ackermann und die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel – werden sich mit Fragen der Identität befassen.

Von Karin Großmann