Artikel von mir
Hingerotzt – Nein, harte Arbeit
10.03.2010, Die Welt
Clemens Meyer war der Star der Leipziger Buchmesse 2008. Nächste Woche beginnt sie wieder, die beliebte Publikumsmesse, und Meyer hat ein neues Buch geschrieben. Der Publizist und Ex-„Tagesthemen“-Moderator Ulrich Wickert (67) traf den Autor für seine Radiosendung „Wickerts Woche“ (NDR) zu einem Gespräch – ein Auszug.
Ulrich Wickert: „Gewalten. Ein Tagebuch“ heißt Ihr neues Buch. Was ist ein Tagebuch für Sie?
Clemens Meyer: „Gewalten. Ein Tagebuch“ impliziert Literarizität. Es ist so etwas wie ein Roman, wie ein Zyklus abgeschlossener Erzählungen, Shortcuts. Ich bekam ein Stipendium von der Hamburger Guntram und Irene Rinke-Stiftung mit dem Auftrag, ein Tagebuch zu schreiben. Ich sagte mir: Du willst einen Kosmos erzeugen. Einen Abriss des Jahres 2009 geben, der sich mit den Gewalten befasst, denen der Ich-Erzähler, denen das Land, die Menschen unterworfen sind. Es hat mich gereizt, mit dieser Form zu experimentieren. Da habe ich dann alles, was ich an physischer und psychischer Kraft hatte, hineingesteckt. Ich habe noch nie an einem Buch in so kurzer Zeit so intensiv gearbeitet.
Ulrich Wickert: In Ihrer ersten Geschichte ist der Ich-Erzähler in einer Psychiatrischen Anstalt eingesperrt: „Ich liege und ich sehe mich liegen.“ Sind das Selbstgespräche?
Meyer: Unterschiedlich. Es geht auch um das Verändern von Räumen, von Wahrnehmungen, von Zeiten, und es ist in dieser extremen Situation am stärksten, wie sich die Person hier von oben sieht.
Ulrich Wickert: Wie kamen Sie in diese Position?
Meyer: Die Ausgangssituation war folgende: Ich geriet in eine Polizeikontrolle, man sperrte man mich in eine Ausnüchterungszelle. Dort ließ man mich nicht telefonieren, und ich dachte: Man muss doch anrufen, damit man hier wieder rauskommt. Ich weiß, dass man bis 0,8 oder 0,9 runternüchtern muss, bis sie einen wieder raus lassen. Ich hatte 2,8 oder 2,5, da würde es lange dauern. Und dann habe ich dummerweise in diese Gegensprechanlage gesagt: „Wenn ich nicht telefonieren darf, hänge ich mich auf!“ Nun hatte ich natürlich nicht die Absicht, das zu tun, aber wenn man das äußert – das weiß ich jetzt -, kommt man sofort in eine Psychiatrische Anstalt, egal, wie ernst man das meint. Und im Nachhinein muss ich sagen, dass e
Ulrich Wickert: Wieso?
Meyer: Weil ich sonst diesen Text nicht hätte schreiben können. Und dieser Text ist die Eröffnung des Buches. Durch dieses Erlebnis reifte die Idee, einen Text über die verschiedenen Gewalten zu machen, denen der Mensch in unserer Gesellschaft und auch weltweit ausgeliefert ist. Es ist eben auch eine Gewalt, an ein Bett geschnallt zu sein. Das war für mich eine sehr existenzielle Situation, in der ich Ängste auszustehen hatte, Todesängste, und die mich viele Monate berührt hat.
Ulrich Wickert: Sie fühlten Hilflosigkeit?
Meyer: Absolute Hilflosigkeit, absolutes Ausgeliefertsein und auch ein Nicht-Begreifen, warum das so ist. Man verliert sich selbst. Nun habe ich das natürlich nicht eins zu eins übernommen. Ich habe daraus etwas gemacht. Ich habe den Raum genutzt. Ich springe in Zeiten und Räume. Dass ich mich selbst sah, war tatsächlich so. Aber es ist gleichzeitig auch eine Expedition in die Literatur, in Filmmotive, eine Auseinandersetzung mit Medien. Es kommen Dinge vor, die der Autor Tage vorher gesehen und gehört hat. Es macht einen riesigen Raum auf, aber es führt immer wieder in diese Zelle zurück.
Ulrich Wickert: Zwei Gewalttaten haben Sie besonders beschäftigt: Der Amoklauf in Winnenden und der Mord an einem kleinen Mädchen. Und auch in der Erzählweise wechseln Sie immer wieder die Perspektive: mal das Täter-Ich, mal sieht das Ich den Täter von außen. Wollten Sie untersuchen, inwiefern solch ein Täter auch in ihnen stecken könnte?
Meyer: Was den Amoklauf betrifft: auf jeden Fall! Was diese Kinderschänder-Sache angeht: sicher nicht – da fühle ich mich gefeit. Aber selbst da habe ich die Aufgabe, mich als Schriftsteller hineinzuversetzen. Bei Winnenden dachte ich tatsächlich: Mensch, du warst doch früher auch nicht so der Musterschüler und hast auch mal ein Riesen-Messer in der Schule mitgehabt. Aber natürlich war ich kein Amokläufer.
Ulrich Wickert: Dieses Messer kommt auch in Ihrem ersten Roman vor.
Meyer: Ja, das ist ein kleineres Messer, aber da steche ich tatsächlich jemanden an. Die Geschichte in meinem neuen Buch heißt, frei nach Feridun Zaimoglu, „German Amok“. Da entwerfe ich ein Computerspiel. Der Spieler hat die Aufgabe, in Schulen einzudringen, dort so viele Leute wie möglich zu töten. Es geht nicht nur um reine Gewalt. Es geht zum Beispiel auch darum: Helfe ich zu sehr der alten Oma auf der Straße, dann sinkt das Aggressionslevel – game over. Oder ich mache am Anfang den Fehler, einen Drogendealer vor der Schule zu erschießen, und die Schule wird geschlossen. Das ist eine ganz schlimme Geschichte. Ich muss sagen, dass ich sie nicht gern geschrieben habe. Das ist eine Wunde, in die ich den Finger legen wollte.
Ulrich Wickert: Kommen wir zur Geschichte des Mädchenmordes.
Meyer: Diese Geschichte „Der Fall M.“ – weil das Mädchen Michelle heißt und natürlich auch als Reverenz vor Fritz Lang – hat mir noch mehr Schwierigkeiten und körperliche Schmerzen bereitet, weil ich mich sehr tief in diesen Fall gegraben habe. Habe Gerichtsverhandlungen besucht, mir Recherchematerial zugängig gemacht. Dann kam die Frage: Wie schreibst du über das, was man nicht beschreiben kann? Also wählte ich einen Plauderton. Ich erniedrige mich, stelle mich als jemand dar, der auch sexuell abartig ist, der ständig träumt, dass er mit seiner Schwester schläft, kleine Mädchen vom Fenster aus beobachtet. Ich muss mich erst mal auf eine Stufe mit diesem Menschen begeben, um mit ihm zu kommunizieren. Und niemand hat etwas gemerkt! Das Monströse an diesem Fall ist ja, dass der Mensch, der diese Tat begangen hat, zum Tatzeitpunkt selbst fast noch ein Kind war, 18 oder 19. Und der hat jetzt neuneinhalb Jahre Jugendstrafe bekommen. Das Mädchen ist tot. Dann geht es natürlich auch um die Darstellung in den Medien. Was passiert hier? Wie nimmt das „Volk“ das wahr? Todesstrafe für Kinderschänder! Das ist auch verständlich. Wenn ich der Vater dieses Mädchen wäre, ich hätte ihn vielleicht umbringen wollen. Aber was passiert in der Öffentlichkeit?
Ulrich Wickert: Sie haben in ihrem ersten Roman „Als wir träumten“ das Leben von jungen Menschen am Rande der Gesellschaft dargestellt. Von der Kritik ist viel in dieses Buch hineingeheimnist worden: „Hat er das alles selber erlebt?“
Meyer: Natürlich muss man bestimmte Dinge kennen, wenn man darüber schreibt, aber was heißt „kennen“? Ich kann aus dem Fenster schauen und Leute beobachten, und wenn ich gut im Kopf bin, dann kann ich imaginieren, was sie machen. In „Als wir träumten“ war das eine Welt, in der ich mich teilweise selbst bewegte. Aber es ist trotzdem ein Roman. Ich wollte ein Epos aus diesen Versatzstücken konstruieren. So habe ich mir auch viel ausgedacht, um endlich nach sechs Jahren dieses Epos fertig zu haben.
Ulrich Wickert: Wie wirken denn die Auseinandersetzungen um das Buch „Axolotl Roadkill“ der 17-jährigen Helene Hegemann auf Sie?
Meyer: Man möge es mir verzeihen, auch Frau Hegemann möge es mir verzeihen, aber ich sage einfach, dass man mit 17 kein literarisch vollendetes Buch schreiben kann. Das gibt es in der Literaturgeschichte nicht. Selbst Raymond Radiguet war 19, als er „Der Teufel im Leib“ schrieb. Aber Hemingway schrieb mit 28, Salinger mit 26 seinen ersten Roman. Es geht auch nicht nur ums Alter. Ich habe das Buch zur Hälfte gelesen, und nachher hat es mich ehrlich gesagt nicht mehr interessiert. Die Frau ist aber zweifelsohne talentiert.