Ulrich Wickert

Artikel von mir

Ich bin eine Wortbäckerin

02.07.2011, Die Welt

Nora Gomringer verrät, was Slam Poetry ist und sucht nach neuen Wegen des Ausdrucks Ulrich Wickert

Ulrich Wickert: Sie haben den diesjährigen Jacob-Grimm-Preis erhalten, für eine neue Form des Dichtens: Slam Poetry. Heißt es nun Slam Poetry oder Poetry Slam?

Nora Gomringer: Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Poetry Slam ist eine Veranstaltungsform, eine Art Dichterstreit, bei dem vor allem Laiendichter auftreten und gegeneinander antreten. Am Ende sagt das Publikum, wer ihm am besten gefallen hat. Was auf so einer Poetry-Slam-Bühne zu Gehör kommt, ist Slam Poetry.

Ulrich Wickert: Heißt auf Deutsch?

Nora Gomringer: Wörtlich übersetzt: Poesieschlägerei. Aber das klingt sehr roh. Und das ist es ja nicht. Die Veranstaltung ist eigentlich ein schönes Miteinander von Zuhörern und Sprechenden.

Ulrich Wickert: Was genau ist ein Poetry Slam?

Nora Gomringer: Erfunden wurde das Phänomen Mitte der 80er-Jahre von einem freundlichen amerikanischen Herrn, der der Legende nach Bauarbeiter war, mit einem Hang zum Philosophieren und Rezitieren. Marc Kelly Smith, so der Name, hat in der Green Mill, einer Bar in Chicago, einen freien musikalischen und sprecherischen Abend eingeführt und sagte: Jeder kann kommen, jeder darf rezitieren, aber er darf das Publikum nicht länger als drei bis fünf Minuten beanspruchen.

Ulrich Wickert: Also gibt es feste Regeln.

Nora Gomringer: Ja. Wir halten uns auch in Deutschland beispielsweise ans Zeitlimit. Wir verwenden keine Requisiten. Und es dürfen nur eigene Texte vorgetragen werden.

Ulrich Wickert: Wie sind Sie zur Slam Poetry gekommen?

Nora Gomringer: Ich hatte 2000 einen Lyrikband veröffentlicht und 2002 den zweiten. Zwischendrin war ich in New York. Die Ereignisse vom 11. September haben mich überrollt, und danach habe ich Texte produziert, die nicht mehr auf eine Seite passten. Die waren dann so direkt und so sprechend, dass ich nicht mehr wusste, wie sie einzuordnen waren. Da riet mir Michael Lenz, doch mal zu einem Poetry Slam zu gehen und die Texte da vorzutragen. So fing es 2001 an.

Ulrich Wickert: Was genau geschieht dabei?

Nora Gomringer: Die Sprache ist ja das einzige Mittel, das einem auf dieser Bühne gegeben ist – neben dem Körper und der Stimme. Insofern wird die Sprache vorgezeigt. Jeder bemüht sich, literarisch und ästhetisch anspruchsvoll zu wirken. Die Texte sind sehr unterschiedlich, sowohl vom Niveau als auch vom Thema her.

Ulrich Wickert: Werden sie vorher ausgearbeitet?

Nora Gomringer: Meistens ja. In Deutschland jedenfalls. In den USA kommen auch einzelne Sprecher und zaubern ad hoc einen Text. Wir in Deutschland erleben das eigentlich nur, wenn uns jemand aus der Hip-Hop-Szene besucht.

Ulrich Wickert: Machen das nur junge Menschen?

Nora Gomringer: Die älteste Slamerin ist Marlene Stamerjohanns aus dem hohen Norden. Ich glaube, sie ist weit über siebzig. Eine reizende Dame und eine sehr gute Slamerin. Aber in der Tat, Mitte zwanzig ist das gesättigte Slameralter.

Ulrich Wickert: Nun sagt die Jury, Sie zwirbeln, kneten, verdrehen die Sprache. Was meint sie damit?

Nora Gomringer: Offensichtlich bin ich eine Art Wortbäckerin. Ich nehme an, das ist freundlich gemeint. Ich bemühe mich sehr um die Sprache und habe mich in meinen letzten fünf Büchern auch wirklich intensiv auf die Suche nach ihr gemacht – auch aufgrund der Erfahrung der Sprachlosigkeit, weil es so viele Dinge gibt, die erst über die Schwelle des Tabus hinübermüssen.

Ulrich Wickert: Sie haben auch Poetry-Slam-Meisterschaften gewonnen in der Kategorie Team. Wie geht das, Slam dichten im Team?

Nora Gomringer: Der Teamwettbewerb ist so alt wie der Einzelwettbewerb, und er stellt einen natürlich immer vor besondere Herausforderungen. Meine zwei wunderbaren Mitstreiterinnen Nina Sonnenberg, Michaela Pittroff und ich haben uns zusammengeschlossen und einen Text für drei Stimmen geschrieben. Da hat man chorisches Sprechen, Wechselrede, alle möglichen Finessen zu erproben.

Ulrich Wickert: In den letzten Jahren erschienen mehrere Gedichtbände von Ihnen: Klimaforschung“, „Sag doch mal was zur Nacht“, „Nachrichten aus der Luft“. Haben Sie sich von der Poetry-Slam-Szene entfernt?

Nora Gomringer: Ich bin etwas abgerückt, aber nicht, weil ich mich auf die eigene Arbeit konzentriere. Ich bin einfach zurückgekehrt zu dem, womit ich 2000 angefangen habe.

Ulrich Wickert: Was sind Ihre Themen?

Nora Gomringer: Ich setze mich mit dem Sprechen an sich auseinander, mit dem Körper, mit einem Organ, unserer durch die westliche Kulturgeschichte geprägten Beziehung zu diesem Organ. Dabei bin ich sehr beeinflusst von dem, was ich in meinem Leben gelesen und gelernt habe. Ich bin eine klassische brave Humanistin.

Ulrich Wickert: Sie bleiben immer ziemlich nah an der täglichen Wirklichkeit des Menschen.

Nora Gomringer: Ja, ganz bewusst.

Ulrich Wickert: Manche Gedichte wirken autobiografisch.

Nora Gomringer: Vielleicht nur, weil ich gerne das verpönte lyrische Ich verwende.

Ulrich Wickert: Wieso verpönt?

Nora Gomringer: Ich halte es nicht für verpönt, aber ich kenne ein Gespräch zwischen den Lyrikerinnen Sarah Kirsch und Marion Poschmann. Während Sarah Kirsch ganz leicht und offen „ich“ sagt, versteckt sich Marion Poschmann hinter einem „wir“. Ich habe kein Problem mit dem „Ich“ und einem angesprochenen „Du“.

Ulrich Wickert: Gedichte dürfen sich scheinbar heute nicht mehr reimen.

Nora Gomringer: Wer reimt, steht natürlich in starker Konkurrenz mit den großen Reimenden der vergangenen Jahrhunderte. Ich beherrsche das nicht und bin eigentlich froh, dass die Lyrik befreit ist vom Reim – seit fast hundert Jahren.

Ulrich Wickert: Ihr Vater Eugen Gomringer gilt als bekanntester Vertreter der konkreten Poesie. Hat Sie das beeinflusst?

Nora Gomringer: Natürlich! Konkrete Poesie, die sich ja auch sehr schön bildlich darstellen lässt, hing bei uns überall an der Wand – wie bei anderen Leuten ein Landschaftsbild.

Ulrich Wickert: Ihr Vater hat das Gedicht „Schweigen“ geschrieben, das nur aus dem Wort „Schweigen“ besteht, aber das dann eben in einer konkreten Form zusammengefasst ist, dass es ein Bild ergibt.

Nora Gomringer: Das ist doch unglaublich klug.

Ulrich Wickert: Haben Sie auch schon mal Liedertexte geschrieben?

Nora Gomringer: Ja. Ich arbeite im Moment an Gedichtvertonungen.

Ulrich Wickert: In welche Richtung gehen die?

Nora Gomringer: In Richtung Sangbarkeit! Ich habe viel Jazz-Gesang trainiert.

Ulrich Wickert: Kommen wir zu ihrer Biografie. Aufgewachsen sind Sie in Deutschland und in den Vereinigten Staaten.

Nora Gomringer: Zu 99 Prozent in Deutschland.

Ulrich Wickert: Hat Amerika Sie geprägt?

Nora Gomringer: Es hat sehr auf die Sprache, das Sprachempfinden und die Spracharbeit abgefärbt. Auch auf die Offenheit Experimenten gegenüber.

Ulrich Wickert: Schon mit sechzehn Jahren haben Sie angefangen, als Rezitatorin aufzutreten. Wie ist es dazu gekommen?

Nora Gomringer: Weil ich so ganz furchtbar schlecht Klavier gespielt habe. Da bat ich meine Klavierlehrerin, ein Gedicht aufsagen zu dürfen, wenn einmal im Jahr das allgemeine Vorspielen angesetzt wurde. Das hat sie mir durchgehen lassen. Dann hat sie sehr nett ein Heinegedicht begleitet, das ich rezitiert habe.

Ulrich Wickert: Und dann haben Sie die Musikalität im Gedicht gefunden.

Nora Gomringer: Wo sie ja auch wohnt.

Ulrich Wickert: Wie kamen Sie dann zum Dichten?

Nora Gomringer: Es war erst mit viel Peinlichkeit und Scham belegt, weil ich gedacht hab, oje, kann ich denn nicht lieber malen oder töpfern oder so. Mein Vater dichtet ja schon! Aber meine Mutter bestärkte mich sehr.

Ulrich Wickert: Ist es schwierig, wenn der Vater einen kritisiert?

Nora Gomringer: Sicher, aber mein Vater kritisiert eigentlich nicht viel. Das hat wohl auch damit zu tun, dass er selbst noch viel veröffentlicht und viel schreibt. Er sagt immer nur – und das ist, glaube ich, sehr schweizerisch, mein Vater ist ja Schweizer: „Sehr interessant“ oder „luschtig“. Also, „luschtig“ heißt immer sehr gut. Und „interessant“, da muss man dann nachprüfen, ob man nicht vielleicht noch konkreter hätte werden können.

Ulrich Wickert: Haben Sie auch mal Prosa versucht?

Nora Gomringer: Ständig versuche ich Prosa. Ich schreibe immer mal wieder für die „FAZ“ oder für die „NZZ“. Insofern entsteht fast alle zwei Monate ein Text für die Zeitung. Ich bemühe mich um die Prosa, aber mein Zuhause ist das Gedicht.

Ulrich Wickert: Sie leiten das internationale Künstlerhaus Concordia in Bamberg. Was verbirgt sich dahinter?

Nora Gomringer: Der Freistaat Bayern hat 1997 überlegt, wie er Künstler fördern könnte und dieses schöne Haus in Bamberg in das internationale Künstlerhaus Villa Concordia umgewandelt. Da werden seit dreizehn Jahren jedes Jahr zwölf Künstler begrüßt, sechs aus Deutschland und sechs aus einem anderen Land. Die werden mit diesem Stipendium ausgezeichnet für ihr Lebenswerk.

Ulrich Wickert: Das heißt, sie sind meist nicht mehr ganz so jung.

Nora Gomringer: Stimmt, wir haben einen Altersdurchschnitt fünfzig bis sechzig.

Ulrich Wickert: Was für Leute sind das?

Nora Gomringer: Wir haben immer vier Plätze für Musiker, vier für Literaten und vier für Bildende Künstler.

Ulrich Wickert: Das dürfte für sie sehr anregend sein. Was regt Sie noch an?

Nora Gomringer: Auseinandersetzung mit Kunst. Lesen und Musik hören.

Ulrich Wickert: Was lesen Sie gerne?

Nora Gomringer: Derzeit sehr viel Kinderliteratur. Ich versuche mich wieder ein bisschen zu vereinfachen. Ich muss für ein Projekt recherchieren: eine Graphic Novel.

Ulrich Wickert: Das Genre ist in Deutschland eigentlich noch gar nicht angekommen.

Nora Gomringer: Aber es gibt eine Leserschaft dafür, und der Markt wird immer größer. Denken Sie an all die Manga-Leser. Für mich eröffnet das Genre ganz neue Überlegungen und Möglichkeiten, Text mit Grafischem abzustimmen.

Ulrich Wickert: Die Texte werden dann noch kürzer.

Nora Gomringer: Wie Gedichte eben. Ich meine sowieso, dass ein Lyrikband perfekt verfilmbar ist. Ich weiß nicht, warum das keiner sieht.

Ulrich Wickert: In Frankreich müssen Politiker, die Präsident werden wollen, sagen: „Ich liebe Balzac“ oder so was Ähnliches. Nur Jacques Chirac hat gesagt: „Ich lese Gedichte, die sind kürzer.“

Nora Gomringer: Genau richtig! Ich habe einfach nicht viel Geduld für schlechte Prosa. Es ist wesentlich einfacher, Lyrik zu lesen.