Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Ich wäre so gerne… Cowboy“

14./15.10.2017, Frankfurter Rundschau Magazin „FR7“

Es gab eine Zeit, ich war wohl gerade zwanzig, da wäre ich gern ein Klaviervirtuose wie Arthur Rubinstein geworden. Ich studierte in den USA und hatte das unwahrscheinliche Glück, während der Weihnachtstage in Washington zum „coming out“ der jüngsten Tochter Rubinsteins eingeladen zu sein. Ein vornehmer Ball mit langen Roben und Smoking. In einer Tanzpause setzte sich Rubinstein an den Flügel und spielte den Feuervogel von Strawinsky. Ich versank zu seinen Füßen, die Töne umhüllten mich. Die Wirkung der Musik war so stark, dass ich mir nichts Schöneres vorstellen konnte, als Rubinstein zu werden. Aber ich wusste, daraus würde nichts.

Außerdem hatte ich ja schon seit einigen Jahren ein Ziel: ich wär‘ so gern Diplomat wie mein Vater. Wir lebten damals in Paris, ich besuchte eine französische Schule, er ging gegen neun ins Büro, kam mittags nach Hause, machte eine Siesta, ging wieder ins Büro und abends mit meiner Mutter und irgendwelchen wichtigen Leuten in Restaurants. Um Diplomat zu werden musste man Jura studieren, deshalb hatte ich mich dort eingeschrieben, aber je weiter ich im Studium kam, desto klarer wurde mir: mit Jura wirst du nicht glücklich. Und als Beamter sowieso nicht. Na ja, gut. Es waren auch die sechziger Jahre. 1968. Sie wissen schon… Im Lebenslauf, den ich beim Oberlandesgericht Köln für die Zulassung zum Ersten Staatsexamen einreichte, stand als letzter Satz: „Mit diesem Examen werde ich meine juristische Karriere beenden.“ Ich bestand und hielt Wort.

Ich ging ständig ins Kino und schaute Filme. Eine Kunstform, die mich begeisterte. Da überkam mich der Wunsch: Ich wollt‘, ich wär‘ Hitchcock. Ich halte ihn heute noch für einen der größten Filmregisseure.

Manche Filme habe ich zigmal gesehen. Vertigo, Fenster zum Hof, Der unsichtbare Dritte… Und unzählige Bücher über ihn gelesen. Ich habe viel gelernt aus François Truffauts fünfzigstündigen Interview: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht. Und begeistert verschlang ich Daniel Spotos Biographie über mein Vorbild. Ich schaute mir mehrmals den Film „Das Familiengrab“ an und kontrollierte nebenbei die Zeichnungen, die er als Vorlage für den Schnitt gemacht hatte. Als ich das Examen hinter mir hatte und überlegte, was ich nun werden sollte (Diplomat war vorbei, Rubinstein sowieso, Journalist kam mir überhaupt nicht in den Sinn) überlegte ich, ob ich nicht nach München gehen solle, wo sich gerade der neue deutsche Film entwickelte. Aber dazu fehlte mir doch der Mut. Der Traum lebt noch. Aber weit hinten in einem dunklen Kämmerlein.

Einen Traum habe ich noch: ich wollt‘, ich wäre Cowboy. Also nicht ein Cowboy, der Rinder zusammentreibt, am Rodeo auftritt, Indianer jagt oder Büffel schießt. Sondern ein Cowboy wie Terry. Das kam so: als ARD-Korrespondent in New York (zu Zeiten von Ronald Reagan) fuhr ich für eine Reportage über das Denken im amerikanischen Westen nach Cody in Wyoming. Cody war der Familienname von Buffalo Bill, der diesen kleinen Ort gegründet hat. Dort lebten noch seine beiden Enkel, die aussahen wie ihr Großvater. Einer erzählte, er betreibe eine Pferderanch. Von dort aus könne man in die Rocky Mountains reiten. Jahre später tat ich es in einer kleinen Gruppe. Geführt von Cowboy Terry und begleitet von der Köchin Marcia, die neben dem Lagerfeuer immer ihren Colt liegen hatte, ritten wir vierzehn Tage durch die Rocky Mountains. Terry vorweg, hinter sich die Packtiere, Pferde und Maultiere. Innerhalb von sechs Stunden kletterten die Pferde von achthundert auf zweitausendzweihundert Meter Höhe, über Waldpfade oder – völlig trittsicher – über die rund gewaschenen Felssteine in Gebirgsbächen. Nie habe ich mehr eins mit der Natur gefühlt.

Terry führte von Ende Mai bis Ende September kleine Gruppen auf dem Pferderücken durch die Berge. Im Winter ritt er allein mit Lasttieren zu einsamen Berghütten, wohin wohlhabende Menschen mit Schneemobilen fuhren, um Bären oder Elche zu schießen. Terry versorgte sie dann mit Proviant. Manchmal war er zwei Wochen allein mit seinen Packtieren im hohen Schnee unterwegs.

Zwei Tage ritten wir durch schwarz verkohlte Baumstämme, die immer noch von dem großen Feuer fünfzehn Jahre zuvor zeugten, als ein Drittel des Yellowstone Parks abgebrannt war. Wenn ein Wald alt und schwach wird, dann entflammt ihn ein kurzer Blitz. Zwischen den Stümpfen wächst später helles Grün hervor. So ist die Natur, sagte Terry.

Jeden Morgen untersuchte Terry die Hufeisen der Pferde. Er schlug neue an, falls eines verloren gegangen war. Die alten Hufeisen ließ er liegen. Sonst hatte er uns immer angehalten, alle Abfälle wieder einzusammeln oder – was sich verbrennen ließ – ins Lagerfeuer zu werfen. Selbst unsere Notdurft mussten wir mit einem kleinen Spaten vergraben. Keine, noch so flüchtige Spur vom durchreitenden Menschen sollte in der Natur verbleiben.

Nur die Hufeisen, die blieben liegen. „Warum“, fragte ich. Terry antwortet: „Überall in den Rocky Mountains findest du Pfeilspitzen der Indianer, wir lassen dafür unser eisernes Symbol zurück.“

Der Kampf zwischen den Ureinwohnern und den Siedlern hat noch kein Ende, dachte ich, Buffalo Bill reitet immer noch gegen die Shoshonen. Nicht im Western, in der Wirklichkeit. Seitdem wäre ich gern Terry gewesen. Ist auch nicht schlimm, dass ich all das nicht geworden bin, weil meine Neigungen mich behutsam zu dem haben werden lassen, was ich nun einmal bin. Und wenn ich es nicht geworden wäre, wäre ich gern ich selbst.