Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Karl der Große sorgte für geistige Erneuerung“

07.01.2014, Die Welt

Im Januar vor 1200 Jahren starb Karl der Große. Welches Bild haben wir heute von diesem Herrscher, der als Einiger Europas gilt? Ulrich Wickert spricht mit Mittelalter-Experten Johannes Fried.

Diesen Monat begehen wir den Todestag eines Mannes, der am 28. Januar 814, also vor 1200 Jahren gestorben ist und als Einiger Europas gilt. Aber war er das wirklich? Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von Karl dem Großen sprechen? Es gibt kaum Zeugnisse aus der damaligen Zeit, eine objektive Darstellung des Karolingers scheint also unmöglich. Johannes Fried, Professor in Frankfurt am Main und einer der renommiertesten Mittelalterforscher Deutschlands, hat ein aufregendes Standardwerk über den sagenumwobenen Kaiser geschrieben, „Karl der Große. Gewalt und Glaube“ (C.H. Beck, München. 736 Seiten, 29,95 Euro).

Ulrich Wickert: Ihr Buch beginnt so: „Das folgende Buch ist kein Roman, dennoch eine Fiktion.“ Ist das nicht ein kühner Satz für einen Historiker?

Johannes Fried: Selbstverständlich ist das kühn. Aber ich will klarmachen, dass wir, wenn wir uns einer Biografie nähern, letztlich nur Fiktionen schreiben können. Denn kein Mensch steht mehr vor uns, wir sehen ihn nicht, können ihn nicht berühren, nicht mit ihm sprechen. Wir sind angewiesen auf die wenigen Zeugnisse, die wir haben, und verknüpfen nach unserem Wissen und Gewissen, was wir über diese Gestalt an Kenntnissen haben. So entsteht etwas ganz Persönliches. Es gibt so viele Karl den Großen, wie es Historiker gibt, die sich ihm zuwenden.

Ulrich Wickert: Karls Geburtsdatum ist unbekannt, Historiker haben es auf das Jahr 748 festgelegt. Warum gibt es keine Quellen über seine Jugend?

Johannes Fried: Dass die Jugend eines Menschen entscheidend ist für seine geistige oder psychische Prägung, war damals überhaupt nicht bekannt – überhaupt, eine weltliche Biografie. Dass Karl der Große eine solche empfangen hat, liegt an dem kulturellen Umbruch, den er bewirkt hat. Man konnte nach seinem Tod die Feder zücken und anhand der Biografien des alten Römers Sueton und dessen Kaiserbiografien ein weltliches Leben entwerfen. Zuvor gab es nur Heiligenbiografien. Und heiligmäßig war Karl der Große in seinem Leben sicher nicht.

Ulrich Wickert: In was für eine Zeit wurde er hineingeboren?

Johannes Fried: In eine ausgesprochen kriegerische. Es gibt kein Jahr, in dem kein Krieg geführt wurde: Vater, Großvater, Urgroßvater, alle haben Kriege geführt, Rebellionen, Brüderkriege, um den einen gegen den anderen auszuspielen, zu verdrängen, in den Tod zu stürzen. Es gibt Kriege gegen Sarazenen, gegen Sachsen, gegen Franken innerhalb des eigenen Reiches, Ost gegen West – eine unruhige Zeit, in der es geistige Kultur schwer hatte, sich durchzusetzen und etwas auf die Wege zu bringen.

Ulrich Wickert: Karl ist sehr jung König geworden, mit 20 oder 21. War er reif dafür?

Johannes Fried: Das ist eine schwierige Frage. Ich denke schon. Er ist seit 754 mit dem Vater in den Krieg gezogen, als gerade mal 16-Jähriger. Insofern war er geübt. Er hatte wohl auch guten Unterricht genossen. Ab sechs Jahre wird man in den Lateinunterricht gesteckt, wenn man Königssohn ist. Und wir wissen, dass Karl gut Latein konnte. Sein Biograf Einhard sagt sogar, „er sprach Latein wie seine Muttersprache“. Man muss immer vorsichtig sein bei solchen panegyrischen Äußerungen. Aber ich glaube, am Hof Karls des Großen wurden so viele Witze auf Lateinisch gerissen. Da muss der König sie verstanden haben. Das geht nicht anders.

Ulrich Wickert: Was war sonst die Sprache, in der man kommunizierte?

Johannes Fried: Das war die Sprache der verschiedenen Völker. Die Franken sprachen ein Fränkisch. Karl der Große dürfte als Mutter- oder Vatersprache so ein Moselfränkisch gesprochen haben. Im Westen war das stärker dem Latein angenähert, ein Romanisch. Und wir haben dann aus der Generation nach Karl dem Großen auch die ersten Zeugnisse für die romanische Sprache. Aus seiner eigenen Zeit wissen wir, dass geistliche Ermahnungen an die im Westen tätigen Priester dahin gingen, sie sollten die Volkssprache nicht gebrauchen, sondern das Latein in die Volkssprache transportieren.

Ulrich Wickert: Inwiefern waren Königreich und Kirche verbunden – gab es keine Trennung von weltlich und geistlich?

Johannes Fried: Im Prinzip nein. Die Kirche war alles. Sie wölbte sich im Spirituellen als Leib Christi über die gesamte Christenheit und schloss den König und seine Herrschaftssphäre mit ein. Insofern gab es keine Trennung. Auch semantisch differenzierte man nicht sonderlich. Natürlich gab es die Funktionstrennung, also die Bischöfe, die Priester, die den Altardienst zu versehen hatten. Aber Karl der Große selbst sah und fühlte sich selbst auch als Herr über diese Kirche. Nur in den speziellen Glaubensfragen, wenn es um dogmatische, um kirchenrechtliche Dinge ging, dann war der Papst zentral. Aber um sie durchzusetzen, dafür war der König nötig. Wir haben sogar einen Beleg, dass der König den Papst mahnt: „Bleib immer gläubig und verlasse den rechten Weg nicht“. Das ist schon toll, dass der weltliche Herr den geistlichen Princeps mahnt, er soll auch seiner Funktion gemäß leben!

Ulrich Wickert: War für Karl der Glaube ein Herrschaftsinstrument?

Johannes Fried: Selbstverständlich. Er hat eine ganze Reihe von zentralen kirchlichen Reformakten in die Wege geleitet. Die betonen ganz regelmäßig die Position des Königs als dessen, der diese Dinge in die Wege leitet: Der König sagt, was gemacht wird.

Ulrich Wickert: Am 25. Dezember 800 lässt sich König Karl in Rom vom Papst zum Kaiser krönen. Wessen Idee war das?

Johannes Fried: Karl der Große wollte Kaiser werden. Seine ganze Politik lief darauf zu. Das lässt sich auch zeigen. Wir haben seit 797 direkte oder indirekte Kriterien. In meinen Augen ist das Interessanteste: Damals muss Karl an Harun ar-Raschid eine Gesandtschaft geschickt haben – und diese Gesandten sind nicht an den König der Sarazenen, sondern an den „König der Perser“ geschickt worden. Und die Perser sind die, mit denen die letzten römischen Kaiser, die auch für den Westen akzeptiert waren, Verträge geschlossen hatten. Insofern ist ein Vertrag und eine Kommunikation mit den Persern ein Hinweis auf kaiserliches Selbstbewusstsein bei Karl dem Großen. Diese Benennung der Sarazenen, der Araber als der Perser hört in dem Augenblick auf, wo zwischen den arabischen Herrschern in Bagdad und Karl dem Großen der Bruch eingetreten ist. Dann sind sie wieder Sarazenen. Die letzte Benennung Harun ar-Raschids im Kontext der höfischen Annalen Karls des Großen ist Sarazenus und nicht mehr Perser. Das ist für mich ein Hinweis darauf, dass ab 797 Karl direkt, unmittelbar aktiv wird und auf die Kaiserkrönung zuläuft.

Ulrich Wickert: Was bedeutete die Kaiserkrone im Machtgefüge dessen, was wir heute Europa nennen?

Johannes Fried: Die Kaiserkrone ist ein Titel, eine ehrende Auszeichnung. Sie dokumentiert vielleicht – und das sage ich mit Vorsicht –, dass Karl als wirklicher Herrscher auch über die Stadt Rom, über den römischen Dukat in Erscheinung getreten ist. Es ist vor allem ein Zeichen dafür, dass er sich mit Konstantinopel, mit Byzanz, dem Basileus ton Romaion, dem wirklichen Nachfolger der antiken römischen Cesaren, gleichrangig fühlt. Es ist mehr ein symbolisches als ein machtmäßiges Zeichen. Denn die Macht hatte er vorher schon. Da kam kein Quäntchen mehr hinzu.

Ulrich Wickert: Welche Bedeutung hat die Gewalt damals?

Johannes Fried: Ein König musste ein Krieger, ein erfolgreicher Krieger sein. Er musste an der Spitze seines Volkes die Macht bewahren und auch königlich großzügig sein können. Aber er muss vor allen Dingen auch Beute machen: Karl festigt den Besitz Aquitaniens, also das Frankenreich, das Gallien südlich der Loire. Das ist schon ein militärischer Erfolg, der sicher auch mit Gold- und Silbergewinn zu verbuchen war, zumindest mit Territoriengewinn. Er erobert das Langobardenreich. Er besetzt Bayern. Auch da übernimmt er eine blühende monarchisch geprägte Region mit einigem Einkommen. Und er erobert schließlich das Awarenreich. Es ist der letzte große Schatz, der ihm 795 zufällt, der Goldhort des Awarenkhans. Dann konnte der König, Kaiser mit Gold schenken. Das ist schon etwas Besonderes, mit Gold schenken zu können, nicht einfach nur mit Silber, sondern mit Gold. Das ist gleichsam die Krone dessen, was ein König, ein Kaiser leisten kann für sein Gefolge.

Ulrich Wickert: Karl ist 814 gestorben. Damals nannte ihn noch keiner „den Großen“. Wann kam der Begriff auf?

Johannes Fried: Der Begriff kommt ganz langsam auf. Zunächst ist er für die Zeitgenossen der große Kaiser, Magnus Imperator oder Imperator Magnus. Im Laufe des 10. Jahrhunderts verdichtet sich die Vorstellung von einem großen Karl. Jetzt wird tatsächlich der Beiname zu Carolus Magnus. Im Französischen ist er dann seit dem 11., 12. Jahrhundert fest etabliert, Charlemagne auf Französisch, im Deutschen Karl der Große. Um die Jahrtausendwende war er fest etabliert – Karl der Große.

Ulrich Wickert: Man spricht vom sagenumwobenen Kaiser. Da beginnt die Mythenbildung. In der deutschen Geschichte wurden solche Mythen auch immer politisch benutzt. Nun gab es aber im Dritten Reich interessanterweise erst mal eine Ablehnung gegen Karl den Großen. Warum?

Johannes Fried: Die Ablehnung im Dritten Reich stammt aus dieser Germanophilie, die bei einem Teil der Nazigrößen anzutreffen war. Rosenberg, der Chef des Parteiorgans, kam aus dem Baltikum. Da kann man verstärkt einen solchen nordisch-germanischen Mythos erkennen. Wir Mittelalterhistoriker haben uns mittlerweile angewöhnt, nicht mehr von „den Germanen“ zu sprechen, weil es die gar nicht gab – es gab verschiedene Völkerschaften, die eine germanische Sprache gesprochen haben, aber zu keiner Zeit ein Einheitsbewusstsein hatten. Dieser Wahn ist also wirksam geworden, gerade auch über Rosenberg. Bemerkenswert ist: Ich glaube nicht, dass Rosenberg selbst diesen Begriff erfunden hat. Meinem Eindruck nach kommt er von Hermann Löns, der eine kleine Novelle 1913 publiziert, „Die Rote Beeke“. Beeke ist ein kleiner Nebenfluss in Verden. Da taucht am Schluss das Lied vom „eisgen Schlächter“ auf. Das hat natürlich nie existiert, aber ein fiktiver Sänger singt das Lied vom eisgen Schlächter. Und das hallt dann durch ganz Sachsen. Dieser Schlächterbegriff, dieser brutale kalte Schlächter, den greift die Propaganda bei Rosenberg auf. Dann lässt er mithilfe von Himmler in Verden an der Aller den Sachsenhain errichten mit 4500 Findlingen, die im Oval aufgestellt sind und einen Rundweg bilden. Sie stehen heute noch.

Ulrich Wickert: Hitler hat dann seinen Karl den Großen wieder rehabilitiert. Das Interessante ist, dass es später sogar eine Waffen-SS-Division namens Charlemagne gibt. Wollte man damit die französischen Freiwilligen ködern?

Johannes Fried: Die Division Charlemagne waren im Wesentlichen französische Freiwillige. Vielleicht waren die Offiziere Deutsche, aber die Mannschaften stellten zum großen Teil französische Freiwillige. Es ist hochinteressant, dass eine ganze SS-Division so ausgestattet werden konnte. Aber Hitler hat 1935 schon diese Sachsenschlächterei beendet und gesagt: Karl der Große ist ein ganz herausragender Mann – er musste mit Gewalt operieren, sonst hätte man das deutsche Volk nie einen können. Das Ganze ist natürlich eine Vorbereitung seiner eigenen Gewaltaktionen, Karl zu loben war eine Legitimationsstrategie.

Ulrich Wickert: Sehen Sie Karl als Einiger Europas?

Johannes Fried: Nein, als Einiger Europas sehe ich ihn nicht. Er hat ein großes Reich gebildet, dessen Nachfolgestaaten in der Tat europäische Staaten sind, aber nicht die einzigen. Spanien, Portugal, England, Irland, Ungarn, Polen gehörten nie dazu – ganz zu schweigen von Malta oder Zypern. Das sind Gebilde, die mit Karl dem Großen faktisch nichts zu tun hatten. Aber es gibt einen anderen Aspekt, der zentral ist, nämlich die geistige Kultur. Hier hat Karl der Große eine Erneuerung ins Leben gerufen, die bis heute wirksam ist. Die eint Europa – und zwar insofern, als es dieselbe Rationalität ist, derselbe Denkstil, dasselbe Grundwissen, das alle europäischen Völker, Staaten und Universitäten prägt. Gleichgültig, ob Sie in Schottland oder in Sizilien studieren, Sie verstehen einander – von der Sprache mal abgesehen – intellektuell. Diese Gemeinsamkeit halte ich für ganz zentral. Die gehen auf Karl den Großen zurück. Er ist also ein Initiator einer Einheitskultur, die sich aufgrund seiner Impulse hat entwickeln können. Das macht in meinen Augen die europäische Größe Karls des Großen aus. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage, das ist nicht nur Europa, sondern mittlerweile durch Amerika und europäische Kolonisationsbewegungen und Expansionsbewegungen eine Zivilisation, die ganz stark die Welt geprägt hat – nicht alleine, aber doch ganz stark.

Ulrich Wickert: Woher kommt dieser Sinn für Bildung und Kultur bei Karl?

Johannes Fried: Die Notwendigkeit, die Kultur zu erneuern, ist Karl klar geworden, als er erstmals 774 nach Italien kam. Er muss die Rückständigkeit seiner Franken unmittelbar erlebt haben – sie hatten keine Dichter, kaum Latinität, jedenfalls keine gute Latinität, viele Fehler da drin. Und in Italien wimmelte es von herausragenden Grammatikern, so nannte man diese Sprachkünstler. Und er hat einen nach dem anderen an seinen Hof gezogen, um sein Volk, seine Franken zu erziehen. Nach einer Generation kann man es auch sehen. Da konnten Franken selbst als herausragende Lehrer in Erscheinung treten. Zum Beispiel Einhard, der Biograf, oder Rabanus Maurus mit seinem Hymnus „Veni, Creator Spiritus“, gehört auch in diese Generation, die am Hof Karls des Großen erzogen worden ist und die dann eigenständig Schulbildung betreiben konnte und glänzend in dieser Richtung gewirkt hat. Es ist also ganz zentral für die Glaubensfrage. Und das hat Karl der Große gespürt.

Ulrich Wickert: Inwiefern?

Johannes Fried: Man muss sich das klarmachen: Karl der Große tritt schon als Sechsjähriger zum ersten Mal dem Papst gegenüber. Er sieht diesen ganzen römischen Prunk. Und ein solcher Papst hat Kleider, Gewänder an, die ursprünglich römisch-byzantinisch kaiserlich sind, die Zeremonialschuhe, die Strümpfe, die verschiedenen Obergewänder, bis hin zum Hut. In dieser Weise tritt er Karl entgegen, in einem Zeremoniell, dazu fantastischer, überwältigender Gesang. Das muss den Sechsjährigen überwältigt haben. Dann sieht er, wie sein Vater, der gerade viele Schlachten gewonnen hat, fremde Völker besiegt hat, sich vor diesem Mann, der da kommt, zu Boden wirft – sechs Jahre, und der Vater schmeißt sich zu Boden. Und am nächsten Tag genau das umgekehrte Zeremoniell. Die Leute aus Rom liegen plötzlich flach auf dem Bauch und bitten den Vater und die Söhne. Das sind doch Erlebnisse, die prägen. In dieser Weise habe ich versucht, mich dem Karl zu nähern: seiner Menschlichkeit.

Ulrich Wickert: Apropos Menschlichkeit: Karl hatte ja viele Frauen und Nebenfrauen und sehr, sehr viele Kinder. Wie hat das die Kirche gesehen?

Johannes Fried: Die Kirche musste schweigen. Er war einfach zu mächtig und zu groß. Da konnte man nicht viel sagen.

Ulrich Wickert: Sie führen eine Liste von Nebenfrauen auf.

Johannes Fried: Die Liste selbst ist von Einhard überliefert. Aber über die Frauen selbst wissen wir nicht, woher sie kommen. Wir wissen, dass sie mehrere Kinder bekommen haben, zwei Töchter, drei Söhne sind von vier Frauen bezeugt. Wir wissen, dass Karl fünf legitime Frauen hatte nacheinander, und dann, heißt es, nach dem Tod der letzten noch vier Nebenfrauen, von denen wiederum sieben Kinder kamen. Das ist ganz wacker.

Das ganze Gespräch mit Johannes Fried wurde in der Reihe „Wickerts Bücher“ im Radio auf NDR Kultur veröffentlicht.