Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Lieber Gott, mach, dass ich an Dich glaube!“

25.11.2009, Die Welt

Begründer des absurden Theaters: Zum 100. Geburtstag meines Freundes Eugène Ionesco

Er war ein Mann, der stets zwischen Witz und Angst schwankte. Schelmisch gelacht hat er, als er mir erzählte, weshalb alle glaubten, er sei drei Jahre jünger. Er war schon knapp über 40, als ihm der Durchbruch mit seinen beiden Einaktern „Die Kahle Sängerin“ und „Die Schulstunde“ gelang. Da sagte ihm sein Freund, der Kritiker Jacques Lemarchand: „Für einen Autor der Avantgarde bist du zu alt.“ Deshalb machte sich Ionesco um drei Jahre jünger. So steht es heute noch in vielen Büchern. In den Achtzigerjahren hatte ich den Vater des absurden Theaters in Paris kennen gelernt. Und wir haben viele Gespräche geführt. Häufig über Gott, den er suchte. Aber nie fand. Einmal erlebte ich ihn wie gelähmt vor Angst. Er konnte nicht weitergehen.

Immer wieder überkamen ihn Momente der Verzweiflung. Einmal fragte er mich, ob ich an Gott glaubte, er schwieg, als ich es verneinte. Ob er daran glaube? Er zog tief Luft ein und sagte: „Ich bin einer von denen, die morgens im Bett liegen und beten: Lieber Gott, mach, dass ich an Dich glaube!“ Aber er hat sich über die Maßen gefreut, als Papst Johannes Paul II. ihm einen Brief schickte („Ich bete für Sie“) und zu seiner Kolbe-Oper gratulierte. Mehrmals erzählte er mir von dem Brief, als er eingetroffen war. Ein paar Jahre später, als wir über Ionescos Lektüre sprachen, meinte er, er lese gerade in der Bibel, da komme ihm doch einiges sehr sozialistisch vor, und manches sei ja auch ganz frivol – und machte eine Pause mit einem Buster-Keaton-Gesicht, dass man ahnen konnte, wie wenig erst er meinte, was er da gesagt hatte. Er suchte wahrscheinlich die Erlösung von seinen Ängsten, die er im Glauben nicht fand. Er erzählte viel von seinen Albträumen.

Eugène Ionesco saß immer auf einem kleinen Sessel neben der Tür, wenn ich zum Tee kam. Er trug einen Rollkragenpullover und redete viel mit seinen ausdrucksvoll verknorpelten Händen. An den Wänden des Salons hingen Bilder berühmter Maler, alle haben sie mit seinem Werk zu tun. Saul Steinberg hat ¡Die Schulstunde“ karikiert, Max Ernst in gelb und grünem Öl das Rhinozeros, von Joan Miró stammen zwei große Aquarelle, und wenn er nicht selbst die Hommage darunter geschrieben hätte, wüsste man nicht, dass Miró mit seinen Strichen und Punkten Monsieur und Madame Ionesco porträtiert hat. „Das Porträt meiner Frau finde ich schöner“, meint Monsieur Ionesco, und wieder zuckt wie bei Buster Keaton nicht der kleinste Gesichtsmuskel.

Wir haben in dem Salon viel Tee getrunken und lange Gespräche geführt. Etwa über das Reisen. „Ich reise ab, ich reise gern ab“, sagte er.

„Gibt es einen psychologischen Grund, weshalb Sie so gern abreisen, einfach weggehen?“

„Ja, das ist eine psychologische Angelegenheit. Ich habe einfach Lust zu fliehen. Wenn ich an Ort und Stelle bleibe, habe ich den Eindruck, dass mir größere Gefahren drohen, als wenn ich herumreise. Ich liebe das Aufbrechen. Ein französischer Dichter sagte einmal, Abschied nehmen heiße ein wenig sterben. Ich glaube das Gegenteil: Fortgehen heißt ein wenig leben. Also reise ich ab.“

So wollte Ionesco im Herbst 1989 auch eine Einladung nach Polen befolgen, aber der Pass war abgelaufen. Deshalb fuhren wir zum Rathaus von Montparnasse, und ich übernahm es, die Formulare auszufüllen, während er mit seiner Frau Rodica wartete. Auf die Papiere muss man eine Gebührenmarke kleben, die wiederum erhält man nicht im Rathaus, sondern in der nächsten Kneipe – denn das ist das Privileg eines „Tabac“. Also renne ich raus, kaufe die Marke, klebe sie auf, irgendwann werden wir aufgerufen, ich gehe zum Schalter, und die Büroangestellte aus Martinique bittet darum, Ionesco zu holen. Denn er müsse vor ihr den Pass unterschreiben. Auch sie weiß, wer er ist: l’Académicien. Einer der vierzig „unsterblichen“ Mitglieder der Académie Française. Sie behandelt ihn wie ein rohes Ei, und nach knapp einer halben Stunde hält er einen neuen Pass in der Hand. Allerdings steht dort, er habe graue Augen, obwohl sie doch braun sind, aber das war mein Fehler beim Ausfüllen des Formulars. Darüber hat er ein Weilchen gegrübelt. Nach Polen ist er dann doch nicht gefahren – die Gesundheit erlaubte es nicht, aber wichtig war ihm, wochenlang von der bevorstehenden Reise zu träumen.

In den Vierzigerjahren, als die Deutschen Paris besetzt hielten, flohen die Ionescos nach Marseille, wo Eugène als Lehrer unterkam. Und als Strafe für ihre Untaten beschloss er, die Sprache der Deutschen nicht mehr zu benutzen, obwohl er sie so gut beherrschte, dass er sogar Übersetzungen machte. Und tatsächlich, er hat Deutsch ganz vergessen. In den Vierzigern sah er sich aus Ablehnung des Faschismus als Linker, aber er verfiel nicht in den Fehler vieler französischer Intellektueller, nun im Kommunismus sein Heil zu suchen. Er lehnte Stalin genau so ab wie Hitler. Das ließ ihn die französische Elite spüren. So war’s halt in Paris: Wer sich nicht zu den Kommunisten verirrt hatte (und reuig zurückkehrte), hatte einen Makel in der Biografie. Als in den Achtzigern der sozialistische Kulturminister Jack Lang die Kulturmafia von Frankreich beherrschte, wurde Ionesco stets gemieden.

Allerdings kam eines Tages im Jahr 1991 der Präsident aus Prag zu Besuch nach Paris, und da Václav Havel ein berühmter Schriftsteller ist, lud Jack Lang alle, die Rang und Namen hatten und bei ihm geduldet waren, zu einem Empfang. Ionesco gehörte nicht dazu. Aber Václav Havel persönlich wollte Ionesco sehen und bat, man möge auch ihn kommen lassen. Da wurde, um die Peinlichkeit zu überspielen, Madame Monique Lang ans Telefon geschickt, sie umsäuselte Ionesco, man holte ihn mit einer Limousine zum Empfang ab. Dort bedankte sich Havel bei Eugène Ionesco, dessen Werk habe ihn nämlich erst zum Schreiben inspiriert.

In den Fünfzigerjahren bahnte sich gerade mit Albert Camus, dessen Asche jetzt ins Pantheon in Paris einziehen soll, eine Freundschaft an, als der mit dem Wagen verunglückte, doch Jean-Paul Sartre, dessen Schwenk zum Kommunismus er verachtete, lehnte Ionesco radikal ab.

„Weshalb haben Sie Sartre nicht gemocht?“, fragte ich ihn.

„Aus mehreren Gründen. Auch, weil er ständig seine politische Farbe wechselte.“

„War Sartre schwierig, wenn man ihm begegnete?“

„Nein. Aber ich habe ihn selten gesehen. Er hatte sogar eine Schwäche für mich. Ich war der einzige Schriftsteller, mit dem zusammen er seine eigenen Stücke aufführen ließ. Also hatte er wohl eine Sympathie für mich. Kurz vor seinem Tode habe ich von ihm geträumt. Wir waren in einem Theater. Ich habe zu ihm gesagt: ‚Aber hier ist ja niemand, der meinetwegen gekommen ist.‘ Und Sartre sagte: ‚Aber doch, schauen Sie da oben auf dem Olymp, da sind ganz viele Menschen.‘ Ich habe in meinem Traum zu Sartre gesagt: ‚Wie gern hätte ich Sie kennen gelernt.‘ Und er hat mir geantwortet: ‚Zu spät – zu spät‘.“ Eugènes Stimme ist bei diesen Worten in ein dramatisches Flüstern abgesunken.

Der Vorteil einer Metropole wie Paris ist, dass dort wohnt oder durchreist, wer etwas in der Welt der Kultur zu sagen hat. Viele gingen bei Ionescos ein und aus. Man kommt, da drückt einem Wajda gerade die Türklinke in die Hand, Buñuel war ein ständiger Gast. Um die Ecke wohnten Beckett, Matisse und Brancusi. Der Bildhauer Brancusi, auch er ein Rumäne, war offenbar ein griesgrämiger Mensch. Eines Tages besuchen ihn Eugène und Rodica mit der noch kleinen Tochter Marie-France. Da beugt sich Brancusi zu dem Kind und sagt: „Was bist du hübsch – im Gegensatz zu deinen Eltern.“

Auch das Ausklingen der literarischen Salons haben Ionescos miterlebt, Eugène sicher feuchtfröhlich. Er hat damals viel, sehr viel getrunken. „Ich habe das Fässchen meiner Frau mit geleert“, schmunzelte er. „In die Salons gingen wir, weil wir dort Freunde und andere Schriftsteller trafen. Da waren auch Leute wie Jean Genet eingeladen, der im Gefängnis gesessen hatte, wegen Diebstahls, glaube ich, und nur durch sein Genie gerettet wurde. Angeblich klaute er in den Salons silberne Löffel, und am nächsten Tag telefonierten die Damen der Salons untereinander und fragten: ‚Was hat er bei dir geklaut?'“

„War es für die wichtig, dass er klaute?“

„Ja, je wertvoller das von ihm entwendete Stück war, desto höher in der Gunst stand die Gastgeberin.“

Und dann klagte Eugène, die literarischen Salons seien ausgestorben, da man den Sinn für Kultur nicht mehr habe. Zwar gebe es immer noch genügend reiche Frauen, die eine große Gesellschaft gefräßiger und durstiger Dichter bewirten könnten, aber nicht die Kultur beherrsche heute Paris, sondern die Politik. „Politiker sind Leute, die nach Beherrschung dürsten, Leute, die nicht sehr interessant sind“, sagte Ionesco. „Sie scheinen alle machthungrig, das sind die gleichen Leute, die Konflikte schaffen, um die Gelegenheit zu haben, sich zu schlagen und für oder gegen etwas zu diskutieren. Sie leben vom Durst nach Macht.“

Ob das nicht absurd sei, fragte ich den Vater des absurden Theaters. Und er meint: „Es ist schwierig zu sagen, ein Ding sei absurd, da wir nicht das Vorbild dessen haben, was nicht absurd ist.“ Das absurde Theater, so meint Ionesco, sei schon vor langer Zeit erfunden worden. „Shakespeare hat das absurde Theater definiert. Er legt Macbeth in den Mund: ,Die Welt ist eine Geschichte, die ein Idiot erzählt, voller Lärm und Sinnlosigkeit.'“ Aus dem Shakespearischen Macbeth wird dann Macbett, so spricht man in Frankreich den Namen dieses schottischen Mörder-Königs aus. Macbett ist Ionescos Drama über den Mechanismus der Macht, nur ist dort das Morden noch konsequenter vollzogen als bei Shakespeare. Und so ist Ionesco heute noch ein moderner Autor. Ein moderner Klassiker.