Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Literatur ist Selbstzeugnis“

05.03.2011, Die Welt

Siegfried Lenz im Gespräch mit Ulrich Wickert über seine Anfänge bei der WELT, über das Schreiben, über sein Engagement für Willy Brandt und über das hohe Alter

Ulrich Wickert: Ihr erstes Buch „Es waren Habichte in der Luft“ erschien vor nunmehr 60 Jahren, 1951. Wie kamen Sie damals zum Schreiben?

Siegfried Lenz: Ich war Student, dazu Feuilletonredakteur bei der WELT.

Ulrich Wickert: Richtig studiert haben Sie wohl nicht?

Siegfried Lenz: Ich ging zumindest zu den philosophischen Hauptseminaren und pendelte zwischen Universität und Redaktion hin und her. Bei der WELT hatte ich den Auftrag, den Fortsetzungsroman zu bestimmen und jeden Tag in Kapitel einzuteilen. Ich versuchte es mit Graham Greenes „Brigthon Rock“, auch mit anderen Romanen. Während dieser Arbeit dachte ich, das könntest du selbst ja auch einmal versuchen. Ich tat es, und zu meiner Überraschung und Freude sagte Willy Haas, der legendäre Gründer der Literarischen WELT: „Lieber junger Freund, das bringen wir!“ So ist mein erstes Buch erschienen. Bevor es in Buchform herauskam, hat die WELT es vorab gedruckt.

Ulrich Wickert: Was haben sie eigentlich als Junge gelesen?

Siegfried Lenz: Als Junge war ich verliebt in sogenannte Schundliteratur, Jack London, Tom Mix und so etwas. Das war wie eine Infektion. Denn alle meine Mitschüler lasen Rolf Torrings Abenteuer. Also, ein Gorilla klaut das Kind einer weißen Farmerdame und flüchtet mit diesem Kind in die allerhöchsten Baumwipfel Afrikas. So etwas fand ich damals atemberaubend.

Ulrich Wickert: In „Es waren Habichte in der Luft“ steckt ja auch so etwas wie ein Abenteuerroman.

Siegfried Lenz: Na ja, in einem gewissen Alter kann man Gelassenheit nicht als einen wünschenswerten Lebenserwerb ansehen. Da braucht man Aktion.

Ulrich Wickert: Ihre Bücher sprechen eigentlich nie von dem, was Sie selbst sein könnten. Bei Martin Walser oder Philip Roth hat man dagegen das Gefühl, hier schreibt jemand über sich selbst. Interessieren Sie sich literarisch nicht für sich?

Siegfried Lenz: Ich glaube, jeder Schriftsteller schreibt über sich selbst. Fast jede Art von Literatur ist ein Selbstzeugnis des Schriftstellers. Man delegiert eigene Wunschentwürfe an einen anderen. Allein die Wahl der Themen, der Probleme, der Konflikte charakterisiert einen Schriftsteller. Damit gibt er etwas über sich selbst zu erkennen.

Ulrich Wickert: Sie arbeiten schon wieder an etwas Neuem. Darf ich verraten, dass Ihr nächstes Buch „Die Maske“ heißen könnte?

Siegfried Lenz: Aber selbstverständlich. Ja, ich versuche eine neue Novelle. Ich habe mir vorgestellt, dass einem Schiff der China Shipping Line ein Container fehlt. Er ist bei Stürmen über Bord gegangen, was ja oft vorkommt. Ich habe mir vorgestellt, was geschieht, wenn ein Container auf einer Insel an den Strand geschwemmt wird, Leute ihn öffnen. Im Container finden sich Masken, die für das Hamburger Völkerkundemuseum bestimmt waren. Die Finder probieren die Masken an, stellen fest, dass sie plötzlich anders sprechen. Natürlich gibt es auch ein Liebespaar. Wie verhält es sich, wenn ER die schöne Maske eines sehr menschenfreundlichen Drachen gewählt hat, während SIE entweder einen Puma oder einen kleinen Tiger als Maske trägt? Kurzum: Daraus ergeben sich Komplikationen.

Ulrich Wickert: Wie entwickelt sich ein solches Buch bei Ihnen?

Siegfried Lenz: Also, der wichtige Gedanke, der Konflikt sind rasch da. Und dann versuche ich, für diesen abstrakten Konflikt ein Personal zu finden. Personen wiederum sind eingebunden in eine bestimmte Landschaft, soziale Gegebenheiten. Und so entwickelt sich eines nach dem anderen.

Ulrich Wickert: Sie waren ja bei der Kriegsmarine. Fühlen Sie sich immer noch als Seefahrer?

Siegfried Lenz: Das kann ich nicht sagen. Ich war Seekadett auf dem schweren Kreuzer „Admiral Scheer“. Ich habe das Deck geschrubbt, habe gelernt, was bei der Seefahrt zu lernen ist, Tanken, Spleißen, Knotenmachen usw. Damit hat sich meine Tätigkeit erschöpft. Ich war 17, 18 Jahre alt. Ich kann aber auch sagen, dass ich damals leidenschaftlich gern Seefahrer war.

Ulrich Wickert: Und dann sind Sie desertiert.

Siegfried Lenz: Das war später in Dänemark, weil ich mir dachte, der Krieg ist jetzt zu Ende. Ich kam sehr schnell in englische Gefangenschaft.

Ulrich Wickert: Aber auf Desertation stand die Todesstrafe.

Siegfried Lenz: So weit habe ich gar nicht gedacht.

Ulrich Wickert: Sie wollten nur noch weg?

Siegfried Lenz: Ich wollte vor allem sehen, was aus Deutschland geworden war und ob ich dort leben könnte. Dann hatte ich das Glück, von der englischen Armee aufgefangen zu werden. Und da meine Englischkenntnisse allem Anschein nach ausreichten, war ich dann Dolmetscher, sagen wir Hilfsdolmetscher.

Ulrich Wickert: Sie wurden relativ schnell freigelassen und bekamen einen richtigen Schatz mit, nämlich 600 Zigaretten. Und dann begann Ihre durchaus erfolgreiche Karriere auf dem Schwarzmarkt in Hamburg.

Siegfried Lenz: Es waren an die tausend Zigaretten, ein großes Vermögen damals. Das half mir, zumindest in der ersten Zeit zu bestehen. Ich hatte auch das große Glück, dass ich rasch studieren konnte an der Hamburger Universität.

Ulrich Wickert: Dann wurden Sie Moderator beim NWDR und Redakteur bei der WELT. Wie kam das?

Siegfried Lenz: Unter den englischen Offizieren dieser Entlastungseinheit gab es zwei Captains, die literarisch interessiert waren. Und die fragten mich, was ich nach meiner Entlassung tun wolle. Ich sagte, studieren. Dank ihrer Fürsprache kriegte ich einen Studienplatz, was nicht leicht war. Denn es kamen sehr viele alte Soldaten aus dem Krieg zurück, die natürlich ein Vorrecht hatten. Und da die Verbindung dieser englischen Offiziere auch in die WELT hinein reichte, kam ich dank einer Empfehlung auch dorthin und habe also als Volontär angefangen und wurde dann Feuilletonredakteur – bis hin zu der Möglichkeit, mein eigenes Buch zu empfehlen.

Ulrich Wickert: Fantastisch. Sie hatten wirklich sehr viel Glück in Ihrem Leben. Was halten Sie übrigens von Kennedys Motto: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann; frag, was du für dein Land tun kannst.“

Siegfried Lenz: Das ist natürlich sehr hoch gegriffen. Ich glaube, dass ein Mensch, der in einem bestimmten Sinne etwas für sich selbst tut, gleichzeitig etwas für sein Land tut, indem er darauf verweist oder sich dafür einsetzt, dass ein erwünschtes demokratisches Gemeinwesen eingeführt wird nach Zeiten der Diktatur. Und ich glaubte damals wie andere Kollegen auch, mich politisch engagieren zu sollen und mich für die Partei einzusetzen, die ich mit meinen politischen Hoffnungen betraute.

Ulrich Wickert: Für die SPD, für Willy Brandt.

Siegfried Lenz: Ja, für Willy Brandt und später dann für Helmut Schmidt. Und ich war dankbar dafür, dass Willy Brandt oder Helmut Schmidt mich mitnahmen auf bemerkenswerte politische Reisen.

Ulrich Wickert: Sie waren 1970 in Warschau dabei, als Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Helden des Ghettos niederkniete. Haben Sie damals Stolz empfunden? Stolz auf Deutschland? Grass hat das mal von sich gesagt.

Siegfried Lenz: Nein, Stolz nicht. Es war eine Geste der Anerkennung. Nun kannte ich Willy Brandts Biografie. Und dass ein Mann mit dieser Biografie zu dieser Geste fand, erfüllte mich mit Freude.

Ulrich Wickert: Es gibt in Deutschland ja immer wieder Leute, die sich gegen Symbole aussprechen, die auch missbilligen, dass sich Kohl und Mitterand in Verdun die Hand gaben. Halten Sie solche Symbole für wichtig?

Siegfried Lenz: Ja, weil sie einen Mitteilungswert haben, den Worte nicht haben können. Mitterand und Kohl Hand in Hand wird unvergesslich bleiben. Man ist eingeladen, die Vorgeschichte zu bedenken, sich in Erinnerung zu rufen, wann dieser Händedruck nicht möglich gewesen wäre.

Ulrich Wickert: Später wollte Bundespräsident Karl Carstens Sie, Grass und Böll mit dem Bundesverdienstkreuz ehren. Grass und Böll haben aus politischen Gründen abgesagt, weil ihnen Carstens politisch nicht passte. Sie haben einen anderen Ablehnungsgrund genannt. Weshalb?

Siegfried Lenz: Ich schätzte das, was als „Verdienst“ bezeichnet wird, nicht als so verdienstwürdig ein. Außerdem betrachtete ich mich, obwohl in Masuren geboren, als Hamburger. Und wie Sie wissen, ist in Hamburg nicht gerade Gesetz, aber Gewohnheit geworden, Verdienste, Verdienstkreuze und Orden abzulehnen, nicht empört, sondern höflich abzulehnen.

Ulrich Wickert: Wir Deutschen haben ja besonders wegen des Dritten Reichs Schwierigkeiten mit der nationalen Identität. Ist mein Eindruck richtig, dass Ihr Werk mit Romanen wie „Deutschstunde“ oder „Heimatmuseum“ belegt, dass Sie persönlich diese Schwierigkeiten nicht haben?

Siegfried Lenz: Ich habe lange Zeit im Ausland verbracht, in Dänemark zum Beispiel. Meine Frau ist Dänin. Ich habe sehr früh den Vorbehalt – nicht allein in Dänemark, auch in Norwegen – dieser Menschen gegenüber Deutschland gespürt. Aber die Fairness dieser Leute, die noble Art des Umgangs zeigten mir, dass es etwas gibt, zu dem du dich bekennen musst. Ich habe immer gesagt, dass ich Deutscher bin, immer und überall, und dass ich versuchen möchte, diesem Bekenntnis zu entsprechen – sagen wir es mal so.