Ulrich Wickert

Artikel von mir

Nie wieder: das war meine Antriebskraft

20.12.2008, welt.de

Gerade hat er die Bilanz „Außer Dienst“ vorgelegt: Am Dienstag wird Helmut Schmidt 90 Jahre alt. Für WELT ONLINE interviewte Ulrich Wickert den ehemaligen Bundeskanzler. Er sprach mit ihm über die Bedeutung der Begriffe „Ehre“ und „Stolz“. Zudem gab es tatsächlich einen Kommunisten, der Schmidt gefallen hat.

Ulrich Wickert: Herr Schmidt, in Ihrem neuen Buch „Außer Dienst“ sprechen Sie über „Erfahrungen verändern Maßstäbe“. Haben sich Ihre Maßstäbe in den 25 Jahren seit dem Ausscheiden aus dem Amt des Bundeskanzlers noch maßgeblich verändert?

Helmut Schmidt: Die moralischen Maßstäbe haben sich nicht sonderlich verändert. Aber die sachlichen Maßstäbe z. B. im Bezug auf solche Phänomene wie die gegenwärtige Finanzkrise in den Vereinigten Staaten von Amerika, die die ganze Welt betrifft – da haben sich die Maßstäbe zum Teil verändert, zum Teil modernisiert, zum Teil mehr verästelt. Wir haben es heute z. B. mit Finanzinstrumenten zu tun, die es zu der Zeit, wo ich Finanzminister war, auch zu der Zeit, wo ich Regierungschef war, überhaupt nicht gegeben hat, Finanzinstrumente, die selbst die Vorstände der großen Banken nicht durchschaut haben und die ein Politiker von heute noch größere Schwierigkeiten hat zu durchschauen; und die Maßstäbe, die man anlegen muss, sind neue Maßstäbe, denn der Gegenstand war damals gar nicht vorhanden, um den es geht, und das ist nur ein Beispiel für viele. Ähnliches gilt für das Feld der Abrüstung. Ähnliches gilt für das Feld der Weltmächte insgesamt, heute vor 25, vor 30 Jahren hat kaum jemand in der Welt damit gerechnet, dass im Jahre 2008 China zu einer Weltmacht aufgestiegen sein würde, das ist es aber. Und in Folge dessen haben sich im Bezug auf China die Maßstäbe total verschoben. Auch in Bezug auf Russland, damals Sowjetunion, haben sich die Maßstäbe verschoben, und meine Maßstäbe auch.

Wickert: Wenn Sie die Sowjetunion nehmen, die gibt es nicht mehr, heute gibt es Russland. Manchmal glaubt man, es könnte wieder zu einem Kalten Krieg anderer Form kommen. Wie schätzen Sie Russland heute ein?

Schmidt: Ich scheue mich, auf diese pauschale Frage eine pauschale Antwort zu geben. Es macht mich besorgt, dass es in der westlichen Welt insbesondere in den Vereinigten Staaten Leute gibt – in der politischen Klasse, aber auch im Journalismus –, die die heutige russische Förderation so behandeln wollen, wie sie damals die ungleich mächtigere Sowjetunion behandelt haben. Manche haben ihre alte Feindschaft und ihren alten Argwohn gegenüber der Sowjetunion auf das heutige Russland übertragen – wie ich meine zu Unrecht, das sagt noch nichts darüber, dass auch von dem heutigen Russland möglicherweise Gefahren ausgehen könnten. Ich kann sie im Augenblick aber nicht erkennen.

Wickert: Wie früh haben sie denn die Bedeutung von Gorbatschow erkannt?

Schmidt: Gorbatschow kam ins Amt, als ich schon längst aus dem Amt war, das heißt, ich habe ihn nur von weitem erlebt. Ich habe verstanden, dass er den Versuch machte, die Sowjetunion gründlich umzukrempeln. Ich habe damals im Gespräch mit Erich Honecker versucht, dem klar zu machen, dass das Ergebnis jedenfalls ein gewaltiger Umbruch in der Sowjetunion sein würde. Honecker hingegen hat gemeint: Nein, die Grundmauern bleiben stehen, nur die Tapeten werden ausgewechselt.

Wickert: Von Honecker schreiben Sie, er hat manchmal ihr Mitleid erregt.

Ja, weil er sehr, auch innerlich, sehr abhängig war von Moskau und weil er andererseits nicht immer vorhersehen konnte, wohin in Moskau der Hase laufen würde, z. B. hat er überhaupt nicht verstanden, dass Gorbatschow eine ganz andere Politik verfolgte als seine Vorgänger Andropow oder Tschernenko oder Breschnew.

Wickert: Unter den kommunistischen Führern scheint Ihnen aber sogar einer, nämlich Deng Xiaoping, Respekt eingeflößt zu haben.

Schmidt: Ja, der Mann hat mir gefallen, weil er offen war, weil er ehrlich war, jedenfalls im privaten Gespräch, und außerdem war er vermutlich der ökonomisch erfolgreichste Kommunist überhaupt in der Weltgeschichte.

Wickert: Gehen wir noch einmal von dem Untertitel ihres Buches „Außer Dienst“ aus. Der Untertitel heißt „Eine Bilanz“, und nehmen wir das Kapitel „Aus der Geschichte lernen“, dann frage ich mich etwas pauschal, haben Sie aus der Geschichte gelernt?

Schmidt: Ich hab sehr viel aus der Geschichte gelernt, aus der Geschichte der Deutschen insbesondere. Besonders in den Zeiten, die ich miterlebt habe, aber auch was den Ersten Weltkrieg angeht, auch was den ersten Demokratieversuch in Deutschland angeht, also die Jahre zwischen 1919 und 1930, aber ich habe eben auch aus der Geschichte des Wilhelminismus gelernt, der dem Ersten Weltkrieg vorangegangen war.

Wickert: Sie haben die These von der kollektiven Schuld aller Deutschen immer verworfen. Haben Sie mal das Buch von Karl Jaspers über „Die Schuldfrage“ gelesen? Jaspers geht davon aus, es gibt keine kollektive Schuld, sondern es gibt nur die Schuld der Täter.

Schmidt: Ja, dazu brauch ich aber nicht Jaspers’ Bücher zu lesen. Ich bin der Meinung immer gewesen, dass es keine kollektive Schuld gibt, immer nur die Schuld der Person und nicht einer Masse. Ich muss hinzufügen, es gibt auch keine kollektive Ehre. Viele ehemalige Berufssoldaten haben in jenen Jahren von der Ehre des deutschen Soldaten geredet. Dem hab ich immer widersprochen. 

Wickert: Wenn Sie sagen, es gibt keine kollektive Ehre: Es gibt die Diskussion darüber, ob man sagen kann: „Ich bin stolz auf Deutschland“ oder „Ich bin stolz, Deutscher zu sein“. Würden Sie das akzeptieren?

Schmidt: Da würde ich sehr zurückhaltend sein mit der Antwort. Die Kategorie des Stolzes ist mir eine unangenehme Kategorie. Das ist eine gefühlsmäßige Reaktion, die ich eben ausgesprochen habe. Ich bin halt so veranlagt.

Wickert: Sie galten in der öffentlichen Meinung als ein ehrgeiziger Politiker. Was trieb sie an?

Schmidt: Ehrgeiz ist ein Begriff, den ich auf mich nicht anwenden würde, natürlich lag mir an öffentlicher Anerkennung, aber die Antriebskraft lag woanders. Die Antriebskraft war typisch für die Generation, der ich angehört habe: Wir kamen aus dem Kriege, wir haben viel Elend und Scheiße erlebt, im Kriege, und wir waren alle entschlossen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass all diese grauenhaften Dinge sich niemals wiederholen sollten in Deutschland. Das war die eigentliche Antriebskraft.

Wickert: Gibt es Fehler, die Sie heute bereuen?

Schmidt: Es gibt Fehler, die ich jedenfalls auf keinen Fall wiederholen würde, weil ich daraus gelernt habe.

Wickert: War es einer der Fehler, dass Sie, als Sie Kanzler waren, nicht auch gleichzeitig den Vorsitz in der SPD übernommen haben. Denn das hat sich ausgewirkt.

Schmidt: Mein Urteil darüber hat im Laufe der Jahre mehrfach gewechselt. Manchmal habe ich es für einen Fehler gehalten, manchmal habe ich es für unvermeidlich gehalten aus verschiedenen Gründen, einmal um Willy Brandt nicht zu nahe zu treten, manchmal aus dem Grunde, dass das Amt als Kanzler schon alleine aufreibend genug gewesen ist. Ich muss zugeben, mein Urteil zu dieser Frage hat beständig hin und her geschwankt. 

Wickert: Im Augenblick haben wir ja wieder diese Trennung zwischen dem Kanzlerkandidaten Steinmeier und dem Parteivorsitzenden Müntefering. Würden sie sagen, das geht heute nicht anders?

Schmidt: In Deutschland spielen die Parteizentralen und die Parteiführer eine zu große Rolle. Dies ist nicht England mit einem Regierungschef und einem Oppositionsführer, dies ist nicht Amerika mit zwei Personen, die um die Präsidentschaft miteinander konkurrieren, sondern wir sind ein parlamentarisch-demokratisch geordneter Staat. Und bei uns gehen die Regierungschefs aus dem Parlament hervor, und das Parlament besteht nicht aus zwei Parteien, sondern gegenwärtig aus fünf. Theoretisch könnte es sogar aus 19 Parteien bestehen.

Wickert: Die hätten dann alle nur noch ein bisschen mehr als 5 Prozent.

Schmidt: Ja. Gleichwohl spielt in Deutschland die Parteizentrale, ob es die CDU ist oder die SPD-Zentrale oder ob es die CSU oder die FPD ist, eine sehr große Rolle. Das Parlament und der Fraktionsvorsitzende im Parlament sollten die große Rolle spielen. Die übertriebene Rolle der Parteizentralen hängt damit zusammen, dass die Parteien zu einem erheblichen Teil über das Institut der so genannten Wahlkampfkostenerstattung aus der Staatskasse finanziert werden, und diese Finanzierung fließt im wesentlichen in die Parteizentralen, darauf beruht ihre Macht. Die Führungsrolle muss aus dem Parlament heraus wachsen, sowohl auf Seiten der Regierung – der Führer der regierenden Fraktion wird Bundeskanzler – als auch auf Seiten der Opposition – der Führende der Oppositionsfraktion ist der Führer der Opposition. Aber wir haben nicht zwei Parteien, sondern wir haben viele, und wir stehen deswegen unter dem zwang zur Koalitionsbildung.

Wickert: Gibt es Dinge, von denen Sie sagen: Schade, das habe ich nicht gesehen, wie z. B. die Überalterung?

Schmidt: Ja, das habe ich zu spät erkannt. Man hätte es sehen sollen, man hat es deswegen nicht gesehen, weil das Problem überdeckt war durch den Zustrom von vielen, vielen Millionen Auslandsdeutschen, Flüchtlingen, Vertriebenen und durch den Zustrom von ausländischen Arbeitskräften.

Wickert: Nun hat ja jede Regierung eine ganz Reihe von klugen Beratungsgremien, so was wie den Sachverständigenrat. Sehen die so was nicht oder braucht man diese Gremien eigentlich gar nicht?

Schmidt: Diese beratenen Gremien sind nicht von großer Bedeutung. Sie selber halten sich für sehr bedeutend und schreiben jedes Jahr ein dickes Buch. Einer der letzten Sachverständigenratschläge, ein so genanntes Gutachten, umfasste mehr als 700 Druckseiten, das kann kein vernünftiger Politiker lesen, tut er auch nicht – so dass also selbst wenn diese Gremien interessante wichtige Ratschläge geben, sie nicht unbedingt im Bewusstsein der Adressaten, der Politiker, ankommen. Aber es kommt hinzu, dass z. B. der Sachverständigenrat das Problem und die Konsequenzen der Überalterung der deutschen Gesellschaft nicht wirklich gesehen hat.

Wickert: Sie nennen das Gewissen die höchste Instanz für das Handeln eines Politikers. Standen Sie im Amt auch das eine oder andere Mal vor Gewissensentscheidungen, die Sie belastet haben?

Schmidt: Das ist eine Reihe von Malen vorgekommen. Schon in den 1950er Jahren, als es um die Frage ging, ob Deutschland mit Atomwaffen sich bewaffnen sollte. Das war eine Frage, die mit sehr viel Verstand und Vernunft beantwortet werden musste, letztlich aber eine Frage, die man mit dem eigenen Gewissen zu klären hatte. Es gab durchaus im damaligen Bundestag Kräfte, die auf eine atomare Bewaffnung Deutschlands drängten, z. B. mein lebenslänglicher Widersacher Franz-Josef Strauß. Gleichzeitig gab es eine andere Gewissensfrage, nämlich es bestand die Gefahr, dass Nazi-Gewaltverbrechen nachträglich erst offenbart werden würden, aber es galt in Deutschland eine Verjährungsfrist von 20 Jahren, und die Verjährung würde im Laufe des Jahres 1965 spätestens ablaufen, für frühere Verbrechen vielleicht schon 1960 ablaufen. Und die Gewissensfrage war: Darf man nachträglich diese Verjährungsfrist ändern? Und sehr ernst zu nehmende Leute, zum Beispiel mein Freund Adolf Arndt war überzeugt, das darf man nicht. Da muss man das Grundgesetz ändern, wenn man das will. Andere waren überzeugt, das darf man. Ich war auch überzeugt: Man darf das. Das war eine Gewissensfrage für viele Abgeordnete, und insgesamt hat es zwei Jahrzehnte der Diskussion bedurft, ehe schließlich dann die Verjährung im Falle eines Mordes aufgehoben wurde.

Wickert: Wahrscheinlich war es auch eine der fürchterlichsten Entscheidungen, die Sie treffen mussten bei der Entführung von Schleyer. War das für Sie klar von vornherein: Der Staat lässt sich nicht erpressen? 

Schmidt: Für mich war von vornherein klar, dass der Staat sich nicht wieder einlassen durfte darauf, Mörder und andere Gewaltverbrecher zu entlassen aus dem Gefängnis, weil das Leben unbeteiligter Personen auf dem Spiel stand, man aber wusste: Wenn man die Verbrecher entlässt, dann begingen sie abermals solche Verbrechen. Andere Verbrecher werden denselben Versuch machen der Geiselnahme und der Erpressung der Regierungspersonen. Das war eine Entscheidung, die ich schon etwas früher getroffen hatte, nämlich nachdem wir zweimal bei einer Geiselnahme nachgeben haben, das eine mal zu Zeiten der Regierung Brandt-Scheel, da ging es um die islamistischen Verbrecher, die anlässlich der Olympiade in München 1972 andere Menschen zum Tode gebracht hatten und die dann später ausgetauscht wurden. Das zweite Mal zu meiner Regierungszeit im Falle des entführten Berliner Politikers Lorenz. Am Tag nach der Freilassung von Lorenz habe ich mir vorgenommen: Das darfst du nie wieder machen, denn das war ein Fehler.

Wickert: Von Politikern wird Verantwortung gefordert. Kann es denn zu den Aufgaben des Politikers gehören, eine sinnstiftende Instanz zu sein?

Schmidt: Nein.

Wickert: Es gibt immer wieder die Kritik an Politikern, dass Politiker hauptsächlich nach der Macht streben.

Schmidt: Es mag so sein, dass viele Politiker nach Macht streben, aber das gilt nicht für die Mehrheit, jedenfalls nicht in Deutschland. Sie streben nach Geltung, nach Anerkennung. Jedenfalls gilt das für mich, ich strebe nach Anerkennung. Als ich die sogenannte Macht abzugeben hatte im Herbst des Jahres 1982, war ich erleichtert.

Wickert: Wenn wir von den Fragen der Werte in einer Gesellschaft, sprechen, dann gehen Sie auch davon aus, dass die Bürger verantwortlich für den Zustand der Gesellschaft sind.

Schmidt: Jeder von uns ist mitverantwortlich. Viele von uns haben einen kleinen Anteil, andere haben einen etwas größeren Anteil. Jemand, der Minister ist oder Abgeordneter im Parlament, hat eine größere Verantwortung, aber jeder ist mitverantwortlich.

Wickert: Sie schreiben, die öffentliche Moral erscheint als gefährdet. Liegt das daran, dass es zunehmend an Gemeinschaftsgefühl fehlt?

Schmidt: Ich glaube, es liegt stärker an dem Fehlen von Verantwortungsbewusstsein, nehmen Sie die gegenwärtige Finanzkrise in den Vereinigten Staaten, da haben wir es zu tun mit Tausenden von Finanzmanagern und von Bankvorständen und von Fondsvorständen, deren wesentliches Streben war das nach persönlichem Reichtum ohne Rücksicht auf andere. Das heißt Abwesenheit von Verantwortungsbewusstsein, das ist eine schlimme Sache, wenn Leute, die Macht und Einfluss ausüben, kein Verantwortungsbewusstsein haben. Ob in der Wirtschaft oder in der Politik oder in der Wissenschaft oder in einer Kirche.

Ulrich Wickert sprach mit Altkanzler Helmut Schmidt in der Reihe „Wickerts Bücher“ auf NDR Kultur. Die Sendung gibt es auch zum Nachhören auf ndrkultur.de

Quelle: www.welt.de