Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Prostitution ist in der Mitte der Gesellschaft“

31.08.2013, Die Welt

Nur wenige deutsche Schriftsteller sind so wirklichkeitsversessen wie der Leipziger Clemens Meyer. Für seinen neuen Roman hat er 15 Jahre im Rotlichtmilieu recherchiert, in Deutschland und in Japan.

„Im Stein“, gerade bei S. Fischer erschienen, gilt als einer der Favoriten für den Deutschen Buchpreis, der im Oktober verliehen wird. Der Journalist und Buchautor Ulrich Wickert spricht mit Meyer über käuflichen Sex, das Leben und das Schreiben.

Ulrich Wickert: Der Begriff „Im Stein“ kommt in Ihrem Roman auch vor, aber eher nebenbei. Häuser sind aus Stein gebaut, aber in Ihrem Roman geht es um Frauen und Männer und die Fleischeslust.

Clemens Meyer: Das ist zugegebenermaßen ein etwas kryptischer Titel. „Im Stein“ bedeutet auch natürlich die Stadt, in der das spielt. Die Figuren sind gefangen in diesen Mauern. Es ist auch das romantische Motiv mit drin, das steinerne Herz, der steinerne Gast, der Mann aus Stein. Und es ist archäologisch gemeint: Wir gehen in einem Kapitel in die Schichten der Erde hinein. Wir beobachten die versteinerten Figuren, als wenn wir in einer Million Jahren draufgucken würden.

Ulrich Wickert: Ich halte „Im Stein“ für einen großen Gesellschaftsroman, wie er seit sehr Langem in Deutschland nicht mehr geschrieben worden ist. Allerdings schildern Sie die Gesellschaft aus einem Blickwinkel, der bei vielen Menschen noch als tabu gilt.

Clemens Meyer: Das sogenannte Rotlichtmilieu ist ja eigentlich ein Ort, eine Zone, in dem sich die ganze Gesellschaft trifft. Hier gibt es eben auch Vorgänge, wie sie allerorten vorkommen – in der Hochfinanz, in der Handelswelt, in der Industrie. Es treffen sich dort alle Schichten. Es ist ein Spiegelbild, aber auch ein Zerrbild der Gesellschaft.

Ulrich Wickert: Was ist Prostitution für Sie?

Clemens Meyer: Sie ist ein Phänomen, das es seit vielen Jahrhunderten gibt. Man denkt, sie spiele sich am Rande der Gesellschaft ab, tatsächlich aber ist sie in unserer Mitte. Sie ist ein Geschäft, das durch das Internet eine unglaubliche Beschleunigung erfahren hat. Hier treffen unglaublich viele Schicksale, Menschen und Leben aufeinander. Sie ist ein großer Wirtschaftszweig, aber noch viel mehr als das. Sie ist ein Mythos von eigentlich shakespeareschem Ausmaß.

Ulrich Wickert: Der Leser merkt, dass der Roman zum großen Teil in Leipzig und Halle spielt. Die Städte werden aber nicht genannt.

Clemens Meyer: Zum Teil ist es natürlich Leipzig. Aber die Stadt ist auch etwas größer. Ich wollte einen mythologischen allgemeingültigen Raum eröffnen, den Roman einer ostdeutschen, mitteldeutschen Metropolis erzählen, eines großen Sündenbabel. Es sollte sich ein bisschen von Leipzig entfernen, weil mir diese Stadt auch zu klein vorkam und ich auch nicht wollte, dass Recherchen angestellt werden: Gibt es diese Leute? Gibt es diesen oder jenen Zimmervermieter, Immobilienkönig, Rotlichtkönig?

Ulrich Wickert: Wie ausführlich und wie lange haben Sie recherchiert?

Clemens Meyer: Ich habe im Laufe der fünfzehn Jahre Arbeit am Buch bestimmt 60, 70, 80 Frauen getroffen und mit ihnen gesprochen, allerdings nicht als klassischer Fragesteller. Wenn man fragt, sind die Auskünfte nicht besonders gut. Man muss warten, bis das fließt. Und dann habe ich die Ohren und Augen offen gehalten, habe geschaut, was es alles so gibt, habe auf Gerüchte gehört, habe Figuren umkreist, ohne dass die mich überhaupt persönlich kennen. Ich habe keine der Rotlichtgrößen persönlich getroffen – auf die Entfernung ja, ich habe den einen oder anderen gesehen, habe mich in der Nähe aufgehalten. Aber das Wichtigste war die Lektüre – Wirtschaftsromane, Lebensberichte von Prostituierten. Aber ich musste das wieder verlassen, denn ich wollte keinen Milieuroman schreiben, wie Wolf Wondratscheks „Einer von der Straße“. Ich merkte schon relativ schnell, dass das nicht alles sein kann, dass nur allein die genaue Kenntnis des sogenannten Rotlichtmilieus mich auf Dauer nicht weiterbringen würde. Es musste da noch viel, viel mehr hineinfließen.

Ulrich Wickert: Im dem Roman geht es in vielen Details darum, wie das Gewerbe ausgeübt wird. Trotzdem habe ich den Eindruck, Sie gehen sehr brav mit dem Sex um. Sind Sie prüde?

Clemens Meyer: Nein, eigentlich nicht, aber ich freue mich, dass Sie das so sehen. Ein paar Leute haben auch ganz schön geschluckt. Ich glaube aber, dass der Sex, der dort stattfindet, natürlich auch ein anderer Sex ist als der leidenschaftliche Sex unter Partnern. Es ist eben doch eine unterkühlte Sexualität.

Ulrich Wickert: Ich habe auch oft geschmunzelt. Da gibt es Abkürzungen, die eine Art Betriebsanleitungen sind. ELFOKB, Dinge, wo ich dann gar nicht weiß, was es eigentlich ist. Was ist zum Beispiel EL?

Clemens Meyer: Das müsste Eierlecken sein. Das Bizarrste, was mir untergekommen ist, ist AHV. Das ist Achselhöhlenverkehr. Ja, das findet man, das Sexalphabet. Und das wird immer mehr und am Ende verliert man auch den Überblick. Da gibt es etwa diese Figur Eggi, einen Freier, den Prototyp des Kunden, der von einer Sauerei in die nächste tappt. Aber dieser Sex bleibt natürlich an der Oberfläche. Je mehr sich dieser Eggi in die Perversion reinwirft, umso lächerlicher wird’s eigentlich. Ich will überhaupt nicht gegen den Sex mit Prostituierten sprechen. Ich glaube, dass da auch durchaus das eine oder andere Mal ein guter Sex entstehen kann. Aber es ist natürlich eine andere Sexualität.

Ulrich Wickert: Ist „Im Stein“ nicht auch ein Ost-West-Roman?

Clemens Meyer: Ja. Es geht unter anderem um die Kämpfe zwischen westdeutschen und ostdeutschen Zuhältern. Der Begriff Zuhälter taucht übrigens im Roman kaum auf. Die Figuren verwehren sich dagegen. Aber es gab die Zeit um 1990, da kam die alte Ludengarde rüber gefahren und wollte diesen großen neuen Markt abgrasen, während sich die ostdeutsche Szene erst einmal formieren musste.

Ulrich Wickert: Bei Ihnen wird der käufliche Sex zum größten Teil wie ein ganz normales Arbeitsleben geschildert, wie am Fließband.

Clemens Meyer: Es ist auch der Versuch, das eben als eine „normale“ Arbeit darzustellen. Die Frauen sagen: Ich mache das, weil ich das machen will, weil ich Geld verdienen will. Das ist ein gewaltiger Wirtschaftszweig. Aber die Zeiten werden ja auch schlechter, die Frauen beklagen sich, dass das Internet alles abgrabe. Jetzt gibt’s schon auf Facebook den Bumsbutton, mit dem man sich verabreden kann, und noch ganz andere Plattformen. Die klassische Prostitution wird schwierig. Im Netz kann man sich schnell verabreden oder pausenlos Pornos konsumieren, während man sich früher nur damit anheizte und dann zu Prostituierten ging. Dieser Wandel der Sexindustrie spielt auch eine Rolle.

Ulrich Wickert: Sie haben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Lernt man da Schreiben?

Clemens Meyer: Eigentlich nicht. Ich glaube sogar, dass man in jener Zeit manche Kapitel von mir hier durch den Fleischwolf gedreht hätte. Ich weiß es nicht. Aber es war eine gute Zeit. Ich habe gelernt, wie intensiv man an einem Text arbeiten muss. Ich habe tolle Kollegen kennengelernt, Sten Nadolny, Ulrich Plenzdorf, Josef Haslinger. Ich bin wahrscheinlich im nächsten Jahr selbst dort Dozent.

Ulrich Wickert: Wenn ich mir die deutsche Gegenwartsliteratur anschaue, dann sehe ich niemanden, der sich so wie Sie in das Leben stürzt, an ihm auch leidet, und mit einem starken Werk dann wieder daraus auftaucht. Was bedeutet Leben für Sie?

Clemens Meyer: In erster Linie ist es Material. Eigentlich ist es auch gemein, das so zu sagen. Denn ich habe ja auch ein ganz normales Privatleben. Aber das Leben in all seinen Facetten hat mich immer interessiert. Wenn ich Zeitung lese, dann stolpere ich immer über diese schlimmen Dinge. Ich schüttle dann den Kopf und sage, mein Gott, das ist ja alles nicht zu fassen. Wieso ist denn der Mensch so, wie er ist?

Ulrich Wickert: Leiden Sie eigentlich als Autor auch mit, wenn sie schwer erträgliche Kapitel schreiben, etwa jenes über die Suche eines Vaters nach seiner jungen Tochter, die längst im Milieu verschwunden ist?

Clemens Meyer: Gerade an diesem Kapitel habe ich lange dran geschrieben, über einen Monat. Da saß ich in Split an der Adria, und draußen schien die Sonne. Und ich habe nachts gejammert: O Gott, o Gott, das ist ja alles furchtbar. Das ist das Paradox mit der Zeit. Plötzlich ist es dann vorbei, und es steht da. In dem Augenblick, wo man es schreibt, scheint die Zeit nicht zu vergehen, wie es mit allen intensiven, tragischen oder dramatischen Dingen ist. Es nimmt kein Ende. Und dann plötzlich, irgendwann ist es vorbei, und jetzt sitze ich hier – seltsam.

Ulrich Wickert: Wer einen Autor von außen betrachtet, sagt sich leicht, es sei eine einsame Arbeit. Aber ich selbst habe als Autor nie das Gefühl, einsam zu sein, denn ich lebe ja mit all meinen Figuren. Ich lebe in der Geschichte, die ich schreibe. Trotzdem kann dies für das private Umfeld schwer zu ertragen sein.

Clemens Meyer: Ja, da gehe ich mit Ihnen. Einsam ist das Material. Man spricht ja mit den Figuren. Man umgibt sich mit den Recherchen, mit den Figuren, mit den Stimmen. Aber im Privaten? Deswegen habe ich meinen Arbeitsraum in Leipzig, wohin ich mich zurückziehe. Das ist auch nicht immer einfach für die zwischenmenschlichen Beziehungen, die man pflegt, oder den Partner, die Frau. Aber da muss man dann durch. Das ist eben einfach so. Die Kunst steht doch an erster Stelle, das lässt sich nicht ändern. Da will ich mich auch nicht beklagen. Wenn ein Buch fertig ist, dann hab ich auch immer viel Zeit für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich hoffe, die liest das jetzt nicht.

Ulrich Wickert: Gibt es bei Ihnen dieses Gefühl, das ich scherzhaft die postnatale Depression nenne? Das Werk ist draußen, und der Autor ist leer.

Clemens Meyer: Ja. Das war irgendwann im April, Mai. Da merkte ich plötzlich, dass ich vollkommen kraftlos und auch physisch ausgebrannt war. In den letzten Monaten des Schreibens waren auch alle erschrocken, wenn sie mich gesehen haben, die Leute vom Fischer Verlag, die Lektoren. „Du bist ja ganz dünn geworden. Na ja, ist doch klar, wenn man nur von Whisky, von Schnaps und Zigaretten lebt, dann ist das schwierig.

Das ganze Gespräch mit Clemens Meyer können Sie am Sonntag, dem 1. September 2013, in der Reihe „Wickerts Bücher“ im Radio auf NDR Kultur um 13.00 Uhr hören.