Artikel über mich
Ulrich Wickert: „Der Zustand unserer Gesellschaft macht mir Sorgen“
02.09.2019, Abendzeitung
Ulrich Wickert wünscht sich mehr Humanität und Einsatz für die Gemeinschaft. Ein Gespräch über Identität, seinen Zorn über rechte Strömungen, Fehler der Politik – und den Plural von Heimat.
Ulrich Wickert wurde 1942 in Tokio geboren und gehört zu den bekanntesten Journalisten Deutschlands. Er war als ARD-Auslandskorrespondent in Washington, New York und Paris tätig und moderierte 15 Jahre lang die Tagesthemen. Auch Sachbücher und Kriminalromane schreibt er, in seinem aktuellen Buch „Identifiziert euch! Warum wir ein neues Heimatgefühl brauchen“ (Piper, 20 Euro) behandelt er unter anderem die Themen Identität und Heimat.
AZ: Guten Tag Herr Wickert!
ULRICH WICKERT: Sie sind ja pünktlich wie die Tagesschau! (lacht)
Selbstverständlich, typisch deutsch vielleicht. Aber lassen Sie uns über Ihr neues Buch „Identifiziert euch!“ sprechen. Es geht darin um Identität und Heimat. Sie selbst sind in Tokio geboren, in Heidelberg aufgewachsen, haben in Paris und den USA gelebt. Was bedeutet für Sie Heimat? Wo fühlen Sie sich daheim?
Zuhause fühle ich mich dort, wo ich spüre: Ich bin willkommen. Zweitens ist für mich wichtig: Ich kenne mich aus und fühle mich im Umgang mit den anderen, die dort sind, sicher. Und drittens kommen auch Gefühle dazu, die mich mit einem Ort verbinden – seien es Freunde oder auch andere Dinge.
Welche zum Beispiel?
Wenn ich in Paris an einer Boulangerie vorbeigehe und ich rieche den Duft von Baguettes oder Croissants, fühle ich mich sofort wieder zuhause. Insofern sage ich: Man kann auch mehrere Heimaten haben. Ich fühle mich zum Beispiel auch in New York heimisch.
Deutschland haben Sie jetzt auf Anhieb nicht genannt.
Ich bin Deutscher, Deutschland ist meine Heimat. Das ist gar keine Frage. Wissen Sie, als ich in Frankreich Korrespondent war und zum Beispiel über die Rechtsradikalen dort berichten musste, konnte ich die politische Lage gut schildern. Wenn ich aber in Deutschland über Rechtsradikale sprechen muss, kommt bei mir Zorn hoch. Das hat damit zu tun, dass ich mich hier verantwortlich fühle.
Sie machen sich Sorgen um den Zustand unserer Gesellschaft. So lautet schon der erste Satz in Ihrem Buch. Warum?
Ich habe das Gefühl, dass sich die Leute nicht mehr mit dem identifizieren, was Deutschland sein kann.
Was kann es denn sein?
Norbert Elias (Soziologe, Anm. d. Redaktion) sagte: „Ein humaner Staat fehlt uns noch auf der Welt.“ Ich bin der Meinung, genau darauf sollten wir Deutschen hinarbeiten: dass wir ein humaner Staat sind. Um Montesquieu zu zitieren: „Ich bin aus Notwendigkeit Mensch, aus Zufall Franzose.“ Wir sind als erstes Mensch. Ob wir nun Deutscher, Türke, Chinese, Japaner oder Iraker sind, ist ein Zufall. Wenn wir uns unser Grundgesetz anschauen, steht dort: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Nicht die Würde des Deutschen.
Wie steht es derzeit um die Humanität in Deutschland?
Es wurde immer wieder bewiesen, dass es viele Menschen gibt, die sich für einen humanen Staat einsetzen. Wir hatten etwa nach 2015 Hunderttausende Ehrenamtliche, die sich ganz bewusst engagiert haben. Genau da will ich hin. Wir müssen uns engagieren, gerade aufgrund unserer inhumanen Vergangenheit. Auf der anderen Seite haben wir Leute, die davon reden, dass die Zeit des Nationalsozialismus, der Konzentrationslager, der Ermordung von Menschen in Gaskammern ein Vogelschiss in der Geschichte sei. Es stimmt etwas nicht, wenn solche Menschen über 20 Prozent der Stimmen bekommen. Das ist für mich unverständlich und man muss sich die Frage stellen: Woher kommt das?
Haben Sie eine Antwort darauf?
Die Antwort hat für mich eben mitunter damit zu tun, dass sich viele nicht mit dem modernen Deutschland identifizieren können. Dafür gibt es viele Gründe. Die Globalisierung, die Individualisierung, aber es hat auch damit zu tun, dass die nationale Identität immer weniger vermittelt wird. Ich halte es für eine Katastrophe, dass man an vielen Schulen in der Oberstufe Geschichte abwählen kann. Die nationale Identität wird doch aber über Sprache, Kultur und Geschichte transportiert.
Das rechte Spektrum leiht sich Begriffe wie nationale Identität dafür nur allzu gern für seine Zwecke.
Identität ist nicht rechts oder links. Man kann Identität nicht politisch definieren, sondern sie ist etwas, was geschichtlich gewachsen ist. Zu unserer Identität gehört auch das Dritte Reiche, die Konzentrationslager, die Judenvernichtung. Man kann sich vor dieser nationalen Identität nicht drücken.
Welche Rolle spielt die Flüchtlingskrise und Zuwanderung bei der Identitätsbildung?
Viele haben Angst, dass durch die Flüchtlinge die deutsche Identität zerstört wird. Interessanterweise gibt es diese Ansicht vor allem dort, wo es keine oder kaum Flüchtlinge gibt. Und auch Menschen, die noch nie mit Flüchtlingen zu tun hatten, haben sie – weil ihnen die Argumentation der Populisten Angst macht. Sie benutzen diese Ängste für ihre Zwecke, dabei sollte man den Menschen diese Ängste nehmen.
Wenn man die Erfolge der AfD sieht, muss man fragen: Hat die Politik dabei versagt?
Ich bin der Meinung, dass die Politik hätte mehr machen müssen. Sie hätte 2015 ein Einwanderungs- und Integrationsministerium gründen sollen, dann hätte man die ganzen Regelungen zusammenfassen müssen. Einen Teil der Verantwortung hatte die Kommune, einen weiteren der Kreis, das Land, der Bund – diese Aufteilung führt zu viel Unordnung. Hier hätte man zeigen müssen: Die Politik nimmt etwas in die Hand und schafft Ordnung.
Konnte man damals schon das ganze Ausmaß der Fluchtbewegung absehen?
Gute Politik ist voraussehend.
Was lässt sich jetzt tun?
Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, dass man viel über Heimat redet und es positiv besetzt. Wie wollen wir, dass sich unser Land darstellt? Die nationale Identität muss vorwärtsgewandt sein und muss umfassen, welche Verantwortung wir tragen, auch aus der Vergangenheit heraus.
Schafft die Politik das?
Im Augenblick hat man den Eindruck, die großen Parteien haben eher Probleme mit sich selbst. Wir brauchen wieder Politiker, die nicht so sehr auf sich gucken, sondern auf die Sache. Das ist sicherlich ein Grund, warum die Grünen so viel Zuspruch bekommen, weil sie sich auf Themen fokussieren und nicht auf innerparteilichen Streit.
Was schlagen Sie konkret für mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft vor?
Ich habe schon vor Jahren gefordert, dass man gemeinschaftsstiftende Maßnahmen bräuchte.
Welche zum Beispiel?
Ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen zum Beispiel, die sich in einem sozialen Bereich für die Gemeinschaft engagieren. Den Einsatz für die Gemeinschaft muss man lernen. Ich halte es zudem für sehr fragwürdig, dass damals die Wehrpflicht ohne eine gesellschaftliche Diskussion ausgesetzt wurde. Es war meines Erachtens ein großer Fehler der Unionsparteien, denn die Wehrpflicht führte dazu, dass der Milliardärs- und der Metzgersohn mal zusammen auf der Bude wohnten. Diese soziale Annäherung gibt es jetzt nicht mehr. Wer keinen Wehrdienst machen wollte, leistete wiederum Sozialdienst.
Sie haben mit dem Milliardär und dem Metzger soziale Unterschiede angesprochen. Wie schaut es mit regionalen innerhalb Deutschlands aus?
Identität ist wie eine Zwiebel. Von außen gesehen hat sie immer die gleiche Form – das steht für die kollektive Identität. Darin stecken viele Tausende Häute. Der Bayer hat natürlich eine andere Identität als der Ostfriese, aber trotzdem haben beide eine deutsche Identität gemeinsam.
Sie beklagen in Ihrem Buch auch, dass Respekt und Höflichkeit hierzulande immer mehr abhandenkommen.
Das fällt nicht nur mir auf. Ich finde, beides muss überall mehr eingefordert werden – von den Eltern, in der Schule, im Betrieb.
Genauso vermissen Sie aktiven Protest der Menschen für eine Sache. Woran liegt das?
Es geht uns wohl zu gut.
Ist die Fridays-for-Future-Bewegung hier nicht ein guter Impuls?
Das ist ein sehr guter Gegentrend!
Engagieren Sie sich auch ehrenamtlich?
Ja! Auf meiner Homepage steht, wie viele ehrenamtliche Aufgaben ich übernehme, und ich habe auch eine eigene Stiftung für Kinderrechte. Das ist für mich ein Selbstverständnis.
Deutschland muss sich nach innen auf seine Werte besinnen. Aber es muss sich auch nach außen positionieren. Wie am besten?
Wir müssen auch hier zeigen: Wir übernehmen Verantwortung in einer im Augenblick sehr schwierigen Welt. Mehrere Minister, Kanzler und Präsidenten haben das zwar schon gesagt, aber tatsächlich getan wird es relativ wenig. Ich finde, wir müssen mehr machen. Diese ständigen Vorwürfe von Trump, Deutschland erfülle seine Verpflichtungen bei der Nato nicht, die stimmen ja dummerweise. Es ist eine Verpflichtung, die die deutsche Regierung vor Jahren eingegangen ist.
Liegt es an der oft kritisierten Zurückhaltung und der abwartenden Haltung der Kanzlerin Angela Merkel?
Naja, der Außenminister könnte ja auch reagieren. Aber vielleicht gehört das auch zur deutschen Identität, dass wir uns aufgrund unserer Vergangenheit zurückhalten wollen. Aber das ist falsch. Wenn wir etwas aus der Geschichte gelernt haben, ist es, dass wir Verantwortung übernehmen müssen, damit es künftig eine vernünftige Klimapolitik gibt, eine vernünftige Sicherheitspolitik und auch eine vernünftige Flüchtlingspolitik.
Von Rosemarie Vielreicher