Ulrich Wickert

Artikel von mir

Warum sind die Kritiker so milde?

19.11.2009, FAZ

19. November 2009 Es mag sein, dass es nur einem Nachrichtenversessenen wie mir aufstößt, aber an den Informationssendungen von ARD und ZDF gibt es weit mehr auszusetzen als den Sportjournalisten-Jargon bei einem Bericht über den Tod des Torwarts Robert Enke (Die ARD macht aus dem Fall Enke einen Spielbericht). Bislang habe ich mich als ehemaliger Nachrichtenmoderator zurückgehalten. Denn ich will nicht als Besserwisser mit erhobenem Zeigefinger wirken. Aber seit einiger Zeit rumort der Gedanke in mir, es ist viel schlimmer, und das gilt nicht nur für die Texte.

Wenn es um die Sprache geht, bedauere ich, dass nur noch wenige Autoren von Stücken für „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ oder für „heute“ und „heute-journal“ den Satzbau beherrschen. Häufig streuen sie Substantive wie grobes Meersalz zwischen kurze Sätze. Auch wenn die Suche nach einer treffenden Schlussbemerkung zu viel Nachdenken fordert, dann „bleibt es abzuwarten“, „ist die Ursache unklar“, oder „es wird sich zeigen“.

Nicht nur die Floskelsprache der Politik wird oft übernommen, sondern auch das Kurzsprech der Nachrichtenagenturen. Da „stehen“ immer noch „Ovationen“, obwohl ich niemanden kenne, der Beifall je hat stehen sehen. Es können nur diejenigen stehen, die Beifall klatschen. Wer so textet, ist nicht nur schusselig, sondern denkfaul. Und warum lassen die Redaktionschefs die sprachliche Verlotterung durchgehen? Bedeutet ihnen die Sprache so wenig, oder merken sie nichts? Den Machern scheint das Bewusstsein für ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag, für eine Grundversorgung politischer Information zu sorgen, abhandengekommen zu sein. Ganz bewusst spreche ich von Information, denn dieser Begriff umfasst mehr als die Nachrichten.

Kein Brennpunkt fürs Kabinett

Wirklich geärgert habe ich mich, dass weder „Tagesschau“ noch „Tagesthemen“, weder „heute“ noch „heute journal“ je das neue Bundeskabinett vollständig vorgestellt haben. Eine Sondersendung, einen „Brennpunkt“ etwa, hob niemand ins Programm. Das kann heute wohl keiner mehr verlangen, Freitag und Samstag gehören der Unterhaltung!

Ich habe es eben im Archiv noch einmal überprüft: Am Freitag, 23. Oktober, steht die Zusammensetzung der neuen Regierung fest, aber das vollständige Kabinett wird am Abend in keiner Nachrichtensendung von ARD oder ZDF gemeldet. Die „heute“-Sendung um neunzehn Uhr berichtet dafür ausführlich über Schnäppchenjäger nach dem Aus von Quelle. Die „Tagesschau“ um zwanzig Uhr erklärt uns, wer einige der wichtigen Ministerien übernimmt, und verweist für mehr Information auf das Internet. Im „heute journal“ lässt sich der Moderator zu „Habemus Kabinett“ hinreißen, aber er stellt es nicht vor. Auch die „Tagesthemen“ verzichten auf Vollständigkeit. Nun mag man sich damit herausreden, die Bundeskanzlerin habe erst am Samstag den Koalitionsvertrag der Presse vorgestellt. Aber zur Kabinettsliste sagt sie da nur noch ironisch: „Das wissen Sie ja schon alles.“ Am Samstag wird in den Abendsendungen von ARD und ZDF zwar der scherzende Guido mit seinem neuen Duzfreund Horst vorgestellt, dazu einige Minister; vom neuen Umwelt- oder Entwicklungsminister immer noch kein Sterbenswörtchen.

Der Automatismus der Bomben

Am Sonntag segnet die FDP auf einem Parteitag den Koalitionsvertrag mit einem denk- oder merkwürdig jubilierenden Guido Westerwelle ab, doch ARD-aktuell entdeckt einen wichtigeren Aufmacher: ein mörderisches Attentat im Irak. Solche Attentate im Irak ereignen sich alle paar Tage. Und sie haben, anders als der Koalitionsvertrag, einen beschränkten Einfluss auf das tägliche Leben der Nachrichten sehenden Bürger in Deutschland. Also muss es einen besonderen Grund geben, weshalb die Bombe im Irak der Aufmacher in „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ ist. Sollen wir es Voyeurismus, Sensationsgier, Bombenjournalismus nennen? Nein, vermutlich ist es viel schlimmer. Hier wird aus einer völlig falsch verstandenen Chronistenpflicht gesendet. Niemand quält sich, den Automatismus, mit dem Bomben in die Nachrichten gelangen, zu hinterfragen. Doch es kommt noch schlimmer.

Am Tag nach der Bundestagswahl wollte die ARD lange keinen „Brennpunkt“ senden. Diese Entscheidung hatten die Intendanten formell gefällt. Kein Programmdirektor hat dagegen protestiert. Dass doch noch ein „Brennpunkt“ lief, war der Intervention des Hauptstadtstudios Berlin und des ARD-Chefredakteurs zu verdanken. Es fehlt offenbar an einem Verständnis für die politische Grundversorgung. Das konnten wir auch am zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls erleben.

Während das französische Fernsehen France 2 die Gedenkfeiern am 9. November in Berlin so bedeutend fand, dass es schon am Nachmittag eine Stunde lang in einer Sendung mit dem ehemaligen Außenminister Roland Dumas den Auftritt Angela Merkels an der Bornholmer Straße live sendete, zeigte die ARD „Sturm der Liebe“. Das ZDF sendete am Nachmittag von der Bornholmer Straße, ließ am Brandenburger Tor aber den für ein solches Ereignis wirklich nicht geeigneten Thomas Gottschalk ans Mikrofon. So war es mit dem Berliner Senat, also mit der Politik, abgesprochen. France 2 strahlte vom Brandenburger Tor weitere zwei Stunden Informationsprogramm mit dem ehemaligen Außenminister Hubert Védrine aus.

Der Sendeplan muss eingehalten werden

Währenddessen liefen in der ARD so bedeutsame Sendungen wie „Verbotene Liebe“ und „Marienhof“. Weil auch in den hohen ARD-Etagen der Sinn für eine politische Grundversorgung fehlt, zögerte man dort lange, überhaupt von den Festlichkeiten zu senden, schaltete dann doch zum Brandenburger Tor, schnitt aber die Übertragung während der Rede der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton ab und sendete die Videobotschaft des amerikanischen Präsidenten Barack Obama nicht.

Der Sendeplan musste eingehalten werden, damit nach der „Tagesschau“, in der die Rede von Angela Merkel live gesendet werden konnte, die Schnulze „Geld, Macht, Liebe“ pünktlich die Zuschauer anlockte. Na gut, das Magazin „Fakt“ wurde in eine Sendung zum Mauerfall umgewidmet. Aber peinlich, dass Moderator Thomas Kausch an diesem besonderen Abend nach einer banalen Abmoderation nicht auf seine Standardfloskel „Ciao“ verzichten konnte. Bei außergewöhnlichen Ereignissen muss ein Moderator seine persönliche Note zurücknehmen. Hier nahm er sich wichtiger als das Ereignis. Dafür hat er allerdings große Vorbilder. Beim Kanzlerduell trat Frank Plasberg wohl bewusst ohne Schlips auf. Damit beweist Plasberg zwar mangelnden Respekt gegenüber der Bundeskanzlerin und dem Außenminister, aber er bleibt seinem Erscheinungsbild treu. Kürzlich sah ich ihn doch mit Schlips moderieren, aber das war ja auch eine sehr wichtige Unterhaltungssendung.

Es fehlt nicht nur an einem Sinn für die Verbreitung wichtiger, aktueller politischer Inhalte. Erst recht habe ich den Eindruck, es fehlt auch an der Einordnung. Aber genug der Klage. Ob es noch schlimmer werden wird, ist unklar, bleibt abzuwarten oder wird sich zeigen.

Ulrich Wickert war von 1991 bis 2006 Moderator der „Tagesthemen“.