Ulrich Wickert

Artikel von mir

Warum wir immer radikaler werden

06.11. 2010, Die Welt

Ulrich Wickert im Gespräch mit Margarete Mitscherlich über ihre Jugend im deutsch-dänischen Grenzland, über weibliche Befreiung, über das Alter und ihr neuestes Buch.

Ulrich Wickert Sie wurden 1917 in einem Ort geboren, der später zu Dänemark gehörte. Ihre Mutter war eine überzeugte Deutsche, Ihr Vater ein überzeugter Däne. Und Sie?

Margarete Mitscherlich: Ich habe mich sehr mit meiner Mutter identifiziert und wurde eine überzeugte Deutsche.

Ulrich Wickert Aber Sie sind in eine dänische Schule gegangen?

Mitscherlich: Nein, in eine deutsche Privatschule. Mein Bruder wurde dänisch und ging in die dänische Realschule.

Ulrich Wickert Hat das zu Reibereien geführt?
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Mitscherlich: Oh, unentwegt. Er war anderthalb Jahre älter und der Stärkere, wenn wir uns prügelten. Und er sang dann das dänische Nationallied „Kong Kristian stod ved højen mast…“ Und ich sang: „Schleswig-Holstein, meerumschlungen, deutscher Sitte hohe Wacht …“

Ulrich Wickert Hat das auch zu Toleranz geführt, wenn man mit Leuten von einer anderen Nationalität umgehen muss?

Mitscherlich: Ich würde nicht gerade behaupten, dass man im Grenzland tolerant war.

Ulrich Wickert Und wie war das, als Sie in Flensburg in eine staatliche Schule kamen?

Mitscherlich: Flensburg war viel strenger, viel autoritärer. Dänemark lacht gern, lacht erfreulicherweise auch gern über sich selber. In Deutschland hatte man gleich einen schlechten Charakter, wenn man unordentlich war. Ich habe mich schwer eingewöhnt.

Ulrich Wickert Dann kam das Dritte Reich. Gingen Sie zum BDM (Bund Deutscher Mädchen)?

Mitscherlich: Meine Klasse war die letzte, die noch nicht gezwungen wurde. Aber es war natürlich ein großer Druck. Bei uns ging die Hälfte in den BDM. Wir fanden das furchtbar spießbürgerlich, dieses Strammstehen und mit Uniformen Rumlaufen.

Ulrich Wickert Sie haben dann in München und Heidelberg Medizin studiert. Zur Psychoanalyse kamen Sie durch Alexander Mitscherlich, den Sie 1947 kennen und lieben lernten. Sie bekamen einen Sohn von ihm, aber er war noch verheiratet. Wurden Sie damals scheel angesehen?

Mitscherlich: Ja. Aber ich achtete die Meinung der Bürger nicht mehr sehr hoch. Der bürgerlichen Moral hatte ich Ade gesagt während der Nazizeit.

Ulrich Wickert Die Psychoanalyse war von den Nazis aus Deutschland vertrieben worden. Alexander Mitscherlich hat sie zurückgeholt. Und Sie haben ihm dann dabei geholfen. Um selber Analytikerin zu werden, haben Sie drei Analysen gemacht. Was haben Sie bei diesen Analysen über sich entdeckt?

Mitscherlich: Glauben Sie wirklich, dass ich Ihnen das erzähle?

Ulrich Wickert Das wäre ganz schön.

Mitscherlich: Ich kann natürlich wunderbar allgemein reden. Also, ich habe damals vieles bei mir entdeckt, was ich sonst gerne verdrängt hätte.

Ulrich Wickert Zum Beispiel?

Mitscherlich: Ich neigte zum Beispiel zur Eifersucht. Ich habe nie zu Neid geneigt. Ich konnte immer gut teilen, weil ich wusste, meine Mutter liebt das, und damit gewinne ich die Liebe meiner Mutter. Dadurch hatte ich auch früh gute Freundschaften. Aber ich war sehr eifersüchtig. Es war für mich sehr schwer, eine Frau neben meinem Mann Alexander zu dulden.

Ulrich Wickert Ihr Mann hat ein Buch vorgelegt, für das er von vielen gehasst wurde: „Medizin ohne Menschlichkeit“, ein wichtiges Buch, denn es dreht sich um Ärzte im Dienst der Nazis. Weshalb haben die sich darauf eingelassen?

Mitscherlich: Ich habe darauf keine Antwort.

Ulrich Wickert Ihr Mann nannte auch Namen, zu einer Zeit, als viele Täter in der Bundesrepublik noch im Amt waren.

Mitscherlich: Sogar die meisten! Berühmte Professoren der Chirurgie, der Inneren Medizin und was nicht alles. Die waren natürlich entsetzt. Was Mitscherlich veröffentlichte, sind die Dokumente, die er als Beobachter in Nürnberg einsehen konnte.

Ulrich Wickert Verstehe ich die Psychoanalyse richtig, wenn ich sage, sie setzt sich immer mit der Vergangenheit auseinander?

Mitscherlich: Jein. Natürlich setzt sich die Psychoanalyse mit der Kindheit auseinander und glaubt, das, was in der Kindheit geschieht, bestimmt das spätere Leben. Die Vergangenheit, wenn sie nicht verstanden wird – und ein Kind weiß nicht, was ihm alles geschehen ist – kann dann zu seelischen Krankheiten führen. Und genauso verhält es sich bei einem Volk. Kritiker würden nun einwenden: Aber die Deutschen wussten doch sehr genau, was in der NS-Zeit passiert ist. Das waren ja erwachsene Leute. Die waren im Krieg, haben geschossen, umgebracht, Völkermord betrieben. Das kann nicht in einem kindlichen Gehirn, einem kindlichen Volksgehirn, passiert sein. Aber wir wissen ja auf der anderen Seite, dass man etwas sehr Schlimmes, an dem man beteiligt war, gern vergisst. Was zum Beispiel in Russland geschah, war ja teilweise so traumatisch, dass man es geradezu verdrängen musste, und es ist ja auch tatsächlich von vielen Menschen verdrängt worden.

Ulrich Wickert Ich erinnere mich an einen Kollegen, der war als 16-Jähriger im Volkssturm eingesetzt worden, um Berlin zu verteidigen. Man hat ihm ein Gewehr gegeben und gesagt, da kommt der Russe, da schießt du hin. Und er sagte: Als die Stalinorgeln anfingen, ist er weggerannt. Und er weiß nicht, was passiert ist, aber er war 16 km hinter der Front, als er wieder zu Bewusstsein kam. Das heißt, er hat die Zeit völlig aus seinem Gedächtnis ausgeschlossen.

Mitscherlich: Ja, das passiert. Und in den deutschen Familien waren ähnlich schlimme Dinge vorgefallen. Da hatte man Söhne verloren, Väter, Ehemänner. Dazu kamen die Dinge, die in den KZs passiert waren. Und das eigene Volk war nun in der ganzen Welt das schwarze Schaf. Auch das wollte man vergessen.

Ulrich Wickert Was ist nun eigentlich die Unfähigkeit zu trauern?

Mitscherlich: Um trauern zu können, muss man sich an die Gegenstände, um die man trauert, erinnern. Sie müssen irgendeine Verbindung zu dem, was geschehen ist, haben, um trauern zu können. Schauen Sie, es waren ja nicht alles Mörder. Ich finde, diese jungen Leute, die da mit 16, 17 zur SS eingezogen wurden, siehe Günter Grass, ja, du liebe Zeit, die konnten sich nicht wehren. Sie wurden eingezogen, fertig. Man trauert nicht nur um die anderen, sondern Trauern ist auch ein Trauern um sich selbst; darum, dass man etwas verloren hat, dass man etwas verkehrt gemacht hat. Aber man sagt ja immer, die Masse kann nicht trauern. Ja, wozu haben wir dann die ganzen Trauerfeiern? Trauer ist ein Wunsch, doch nicht ganz verloren und verlassen zu sein, wieder zusammen zu gehören. Zumal wenn ein Volk so auseinander gefallen ist…

Ulrich Wickert Ihr neues Buch trägt den Titel „Die Radikalität des Alters“. Sie beschreiben da Ihr Wirken in den letzten 60 Jahren. Dass Sie immer radikaler wurden, insbesondere als der Feminismus aufkam. Wo haben Sie diesen Feminismus entdeckt, schon in den USA, als Sie dort waren?

Mitscherlich: Oh, viel früher. Meine Mutter gehörte zur Gertrud-Bäumer-Fraktion. Und ihre Freundinnen waren auch diesem leider doch noch recht national gesonnenen Feminismus zugetan.

Ulrich Wickert Ein Kapitel in Ihrem jetzigen Buch trägt die Überschrift: „Angst vor der Emanzipation“. Wodurch wird die ausgelöst?

Mitscherlich: Emanzipation ist ja Befreiung von Zwängen, Sklaverei. Und wir alle unterliegen von Kindheit an zahlreichen Zwängen. Wir dürfen dies nicht, wir dürfen jenes nicht. In meiner Zeit zum Beispiel spielte Sexualität eine große Rolle. Darüber wurde in der Familie nie gesprochen. Wir hatten auch die Vorstellung, man dürfe keinen Sex vor der Ehe haben. Aber natürlich flirtete man trotzdem, war kokett, hatte auch Beziehungen sexueller Natur in der Studentenzeit. Doch sich zu befreien von dieser Vorstellung, dass man damit ein unanständiges Mädchen war, das wurde sehr schwer. Und so wie man erkennen muss, es gibt richtige Schuldgefühle und falsche Schuldgefühle, braucht es seine Zeit, bis man unterscheiden kann, welche Zwänge, auch gerade als Frau, du akzeptierst und welche nicht. Es war sehr mühsam, sich davon zu befreien. Denn wenn Sie sich von Zwängen befreien, die in einer ganzen Gruppe gültig sind, dann fallen Sie aus dieser Gruppe heraus, sind plötzlich ein Outsider. Und das kann sehr schmerzlich sein.

Ulrich Wickert Alte wählen eher konservativ. Was also ist am Alter radikal?

Mitscherlich: Am Alter ist radikal, dass man anders lebt, wenn man keine Zukunft mehr hat, wenn man weiß, dass es alles nur noch ein paar Jahre dauert. Manche wären froh, wenn die Jahre sich nicht allzu lange hinauszögern, weil es immer schwieriger wird, mit seinem Körper zurechtzukommen, wenn man alt wird. Man ist gezwungen, sich klarzumachen, was einem noch wichtig ist und was nicht.

Ulrich Wickert Nun stellt sich der Mensch ja nicht nur im Alter die Frage: Gibt es einen Sinn des Lebens?

Mitscherlich: Ich war fünf Jahre alt, da habe ich mir zum ersten Mal überlegt, was der Sinn des Lebens ist. Ich sagte mir, ich müsse meine Mutter glücklich machen. Das war der Sinn meines Lebens. Es misslang mir einerseits sehr und gelang mir dann andererseits ab und zu doch. Unter uns: Es gibt natürlich an sich keinen Sinn des Lebens. Es gibt nur den Sinn, den man selber dem Leben gibt.

Ulrich Wickert Ich habe in Ihrem Buch „Die friedfertige Frau“ gelesen, dass Sie daran zweifeln, die Frau sei friedfertiger als der Mann. Gibt es unterschiedliche Werte von Mann und Frau?

Mitscherlich: Der Mann hat stärkere Muskeln.

Ulrich Wickert Das ist ja noch kein Wert.

Mitscherlich: Nein, aber es wird als Wert angesehen, und der Mann kann deswegen leichter aggressiv sein. Noch immer schlagen viele Männer die Frauen – und nicht die Frauen die Männer. Ich behaupte auch, dass der sexuelle Akt ein aggressiver Akt ist. In den Körper des anderen einzudringen, ist aggressiv, eine Grenzüberschreitung.

Ulrich Wickert Aber von der Biologie so gewollt.

Mitscherlich: Ja, aber die Biologie ist eben aggressiv. Dem Mann gibt sie aggressive Züge, indem sie ihm dieses Organ gegeben hat.

Ulrich Wickert Gut, aber dann gibt es die Kultur des Menschen, die ihn dazu bringt, nicht aggressiv zu sein.

Mitscherlich: Ja. Ein wirklich kultiviertes Volk fängt nicht an, den anderen mit Schießgewehren tot zu schießen. Und doch haben wir Deutsche es oft getan. Biologisch ist der sexuelle Akt, ohne den es die Menschheit nicht gäbe, vom Mann her gesehen ein aggressiver Akt. Die Frau kann nicht in den Mann eindringen, ihn auch nicht zur Sexualität zwingen. Die Frau ist natürlich passiv aggressiv. Die Frau wird zur Giftmischerin, zur Heuchlerin und hat raffinierte Möglichkeiten, Menschen und Männern Fallen zu stellen.

Ulrich Wickert Heute wird darüber diskutiert, dass es zu wenige Frauen in den Führungsgremien gibt. Wir streiten darüber, ob man eine Quote einführen soll. Was halten Sie davon?

Mitscherlich: Ja, warum eigentlich nicht? Denn wir sind heute nicht mehr auf Muskelstärke angewiesen. Wir müssen nur einen Computer bedienen. Und das meiste, was man macht, macht man im Büro oder wie ich hinter der Couch, Mann wie Frau. Es ist nicht mehr notwendig, biologisch stärker zu sein, muskuläre Kraft zu haben, um sich in dieser Gesellschaft durchzusetzen. Übrigens glaube ich nicht, dass es so etwas wie ein Intelligenz-Gen gibt. Das ist sehr kompliziert. Aber mit Sicherheit glaube ich, dass erworbene Eigenschaften sich tradieren. Das ist doch klar. Und wenn in einer Familie über die Jahrhunderte hinweg, wie es zum Beispiel bei den Juden der Fall ist, die schon lesen und schreiben konnten, als wir noch von Baum zu Baum sprangen, wenn also in einer Gruppe über die Jahrhunderte hinweg Intelligenz eingeübt wurde, ja dann tradiert sich diese Intelligenz auch von einer Generation auf die andere. Das hat ja dann – um bei den Juden zu bleiben – unseren Neid leider sehr oft erregt.