Artikel von mir
Weihnachten spendet Zuversicht
24.12.2010, Literarische Welt
Karl Kardinal Lehmann über seinen Werdegang, über das Verhältnis der westlichen Gesellschaften zum Islam, über Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche und die Bedeutung von Weihnachten
Ulrich Wickert: Eine scheinbar banale Frage: Was ist die Bibel?
Karl Kardinal Lehmann: Die Bibel ist das Buch der Bücher, also eine Sammlung von Worten der Offenbarungen Gottes im Alten Bund und im Neuen Bund. Das geht über tausende von Jahren. Es sind viele Formen des Sprechens und Schreibens, vom Rätsel bis zum Hymnus, von der Klage bis zur Erzählung. Insofern ist die Bibel auch das Buch schlechthin, jedenfalls für einen Theologen.
Ulrich Wickert: Und für Sie persönlich?
Karl Kardinal Lehmann: Die Bibel ist mir natürlich das wichtigste und liebste Buch überhaupt. Ich habe mich aber immer auch bemüht, es zu verstehen. Deswegen habe ich über die Auslegung des Neuen Testaments meine theologische Dissertation geschrieben. Ich habe mich lange gefragt: Was meinen wir, wenn wir sagen „auferweckt am dritten Tag nach der Schrift“? Es fällt auf, dass drei Tage in der Bibel lang sein können, wenn die Eltern Jesu ihn drei Tage lang suchen, oder auch sehr kurz, wenn es darum geht, einen Tempel wieder aufzubauen. Deswegen habe ich dann gesucht, bis ich in den jüdischen Kommentaren zum Alten Testament gefunden habe, es gibt eine regelrechte kleine Theologie der drei Tage, die man auf die Formel bringen kann: Gott lässt seine Gerechten nicht länger im Stich als drei Tage.
Ulrich Wickert: Gibt es andere Bücher, die Sie faszinieren?
Karl Kardinal Lehmann: Ich hatte das große Glück, dass ich auf dem Gymnasium einen überragenden Deutschlehrer besaß. Der hat mit uns auch klassische Literatur gelesen, sehr intensiv Goethe und Schiller. Aber auch Paul Celan oder Günter Eich, deswegen haben es mir Gedichte angetan seit dieser Zeit. Und ich habe lange überlegt, ob ich nicht Germanistik und Philosophie studieren sollte, weil ich von der Kunst der Auslegung fasziniert war. Ich las auch, noch auf dem Gymnasium, Romano Guardini und Heidegger. Ich fragte mich immer, was ist Metaphysik? Und dann habe ich entdeckt, dass Heidegger ein kleines, 40-seitiges Büchlein geschrieben hat: „Was ist Metaphysik?“ Ich war so naiv und habe mir das immer wieder vorgenommen. Und nicht verstanden! Dass ich Heidegger später persönlich kennenlernen würde, habe ich damals natürlich nicht geahnt.
Ulrich Wickert: Und was ist nun Metaphysik?
Karl Kardinal Lehmann: Man könnte schlicht sagen, Metaphysik ist das, was jenseits unserer empirisch greifbaren Wirklichkeit liegt. Ob das jetzt Ideen sind, Visionen, Utopien, etwas Göttliches oder ein persönlicher Gott, das ist dann die Ausgestaltung der Metaphysik. Aber die Metaphysik kam in der Neuzeit in eine tiefe Krise, indem gesagt worden ist, hauptsächlich bei Feuerbach und bei Karl Marx, im Grunde genommen bedeutet Metaphysik eine Verdoppelung unserer Welt. In dieser Zeit haben wir Mängel, Entbehrungen, Ungerechtigkeit, und man sehnt sich nach einer jenseitigen Welt, in der alles vollkommen ist. Und deswegen war es natürlich auch leicht, die Religionskritik auf diese Basis zu stellen.
Ulrich Wickert: Sie haben Heidegger kennengelernt.
Karl Kardinal Lehmann: Das ging über seinen Bruder Fritz, der noch im Elternhaus wohnte und ein kleiner Bankkaufmann war, hellwach und klug. Der hat es mir ermöglicht, dass ich zwei- oder dreimal in Meßkirch war. Ich bin ja in Sigmaringen, nur 15 Kilometer entfernt, zu Hause. Und ich konnte da mit Heidegger sehr schön reden. Vor allem bin ich mit ihm und dem Bruder den sogenannten Feldweg gegangen. Es gibt da eine wenige Seiten umfassende Erzählung, in der dieser Feldweg als Ausdruck eines ländlichen, geborgenen, gediegenen Lebens interpretiert wird, eingebettet in die Jahreszeiten, auch in die Bräuche der Menschen und der Kirche. Heidegger zeigt aber auch, wie diese Welt langsam zerstört wird.
Ulrich Wickert: Haben Sie mit Heidegger auch über den Glauben diskutiert?
Karl Kardinal Lehmann: Das konnte man mit ihm sogar sehr gut. Sicher nicht im Sinne des unmittelbaren kirchlichen dogmatischen Glaubens. Aber er hat mir Ratschläge gegeben, was ich in der Theologie nicht versäumen solle. Zum Beispiel Meister Eckhart.
Ulrich Wickert: Fühlte er sich dem Glauben nah?
Karl Kardinal Lehmann: Ja, auf eine sehr scheue und vielleicht auch ein bisschen verborgene Weise durchaus. Wenn er zum Beispiel unbeobachtet war, da bin ich fest überzeugt, hat er bei Wanderungen nicht nur bei jeder Kapelle Halt gemacht, sondern er ist wohl auch hineingegangen. Das hat er mir gelegentlich erzählt.
Ulrich Wickert: Heute leben wir mit der Angst vor dem Terrorismus. Kehrt die Religion manchmal mit Gewalt zurück?
Karl Kardinal Lehmann: Dies gehört zur Zweideutigkeit der Rede von der Rückkehr, dass man – gerade wenn man einer Religion angehört und für sie eintritt – das Wort nicht unkritisch gebrauchen darf. Denn manche sagen: Eine Religion, die über die Politik und Gewalt auf die Weltbühne zurückkehrt, muss besonders skeptisch und kritisch betrachtet werden. Das ist ohne jeden Zweifel wahr. Keine Religion ist davor gefeit, dass sie missbraucht wird oder sich missbrauchen lässt. Natürlich ist der Religionsbegriff auch so ausgedehnt worden, dass er heute all das beinhaltet, was wir eigentlich unter Aberglauben verstehen, so dass also manchmal selbst verrückte Kulte und Satanismus zu den Religionen gerechnet werden. Insofern muss man ganz schön sieben, wenn man von Rückkehr der Religionen spricht. Und insofern kann man gar nicht anfangen darüber zu reden, ohne dieses Stichwort sehr nachdenklich zu betrachten.
Ulrich Wickert: Apropos Satanismus: Ich habe gerade gelesen, es gebe im Vatikan noch einen Exorzisten. Stimmt das?
Karl Kardinal Lehmann: Ob der im Vatikan offiziell benannt worden ist, weiß ich nicht. Exorzismus hat natürlich weit über die Kirche hinaus und in den meisten Religionen unter anderem Namen, Schamanismus etwa, einen Platz. Er ist auch in der Kirche zu Hause, etwa bei den Sakramenten, bei der Taufe, wo das Böse vor dem Täufling weichen soll. Übrigens ist interessant, dass die Kirche im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit versuchte, den Exorzismus, der außerhalb von ihr im Gebrauch gewesen ist, zu rationalisieren und die unerträglichen Dinge aus den damaligen exorzistischen Formen herauszunehmen. Das ist nicht immer geglückt. An mich wird beispielsweise zwei-, dreimal im Jahr das Begehren herangetragen, dass ich einen Exorzismus gewähre, das darf nämlich nur der Bischof genehmigen. Das ist ja, streng genommen, ein regelrechter Befehl an einen personifizierten Satan, aus einer Satansgestalt auszufahren.
Ulrich Wickert: Und genehmigen Sie das?
Karl Kardinal Lehmann: Ich versuche in solchen Fällen, Kontakt aufzunehmen mit der betreffenden Person. Dann habe ich zwei Leute, einen Geistlichen, der viel von Psychologie versteht, und einen Laien, der viel von nichtchristlichen Religionen versteht. Mit denen und den Bittstellern arrangiere ich ein Gespräch. Dann lässt das Begehren nach dem Exorzismus meistens nach. Insofern habe ich nie einen Exorzismus genehmigen müssen, musste ihn aber auch nicht ablehnen, weil die Leute vorher andere Formen gefunden haben. Darüber bin ich sehr glücklich. Aber man darf nicht übersehen, dass es in weiten Teilen Afrikas und Asiens in hohem Maße exorzistische Praktiken gibt.
Ulrich Wickert: Wie stehen Sie zu dem Satz des Bundespräsidenten, der Islam gehöre auch zu Deutschland?
Karl Kardinal Lehmann: Einfache Formeln haben immer das Problem, dass man sie nachher differenzieren muss. Wir haben sicher lange Zeit nicht genügend beachtet, dass wir auch in Europa nah am Islam sind in unserer Geschichte, nicht nur in Spanien und auf dem Balkan, sondern auch in vielen anderen Bereichen. Mich fasziniert, was für einen enormen Anteil der Islam an der Entwicklung der Technik hatte, im Mittelalter vor allen Dingen beim Bau von Burgen. Also, der Islam ist uns insgesamt näher, als wir denken. Man ist dem Islam gegenüber immer etwas im Unrecht gewesen. Ich glaube, dass ein gewisser Hang zur Destruktivität in manchen Sparten des Islam daher kommt, dass der Islam im Abendland zu oft belächelt worden ist. Karikaturen, Witzfiguren, das gab es immer schon. Wir haben uns immer schwer getan, die Ebenbürtigkeit des Islam als Kultur anzuerkennen.
Karl Kardinal Lehmann: Wenn vier bis viereinhalb Millionen Muslime bei uns wohnen, die wir geholt haben, dann müssen wir ihnen auch gewähren, dass sie eine Moschee bauen, sofern sie ein Heimatrecht bei uns haben. Trotzdem lässt sich natürlich nicht übersehen, dass die Hauptader unserer Kultur vom jüdisch-christlichen Glauben kommt. Aber da kommen die Griechen und Römer und Germanen sowie später die Aufklärung selbstverständlich auch noch hinzu. Insofern gibt es nicht die abendländische Kultur, vor allem nicht im christlichen Bereich.
Karl Kardinal Lehmann: Wir haben natürlich auch das Problem, dass wir eine falsche Konzeption der sogenannten Gastarbeiter hatten. Wir dachten, die bleiben nicht bei uns. Und jetzt sind das Menschen, die sich hier im Grunde wohlfühlen und auch ihre Religion hier ausüben möchten. Ich würde mal sagen, wir müssen ihnen ein Stück Heimat gewähren. Ich würde nicht sagen, die gehören selbstverständlich zu uns oder sind hier schon zu Hause, sondern das wäre eben die Aufgabe, dass es dazu kommt. Aber es fängt ja jetzt an, dass wir uns besinnen. Ich habe ein wenig mitwirken können an dem Plan des Wissenschaftsrates, an unseren Universitäten Institute für islamische Theologie zu schaffen, um dort Religionslehrer auszubilden – in deutscher Sprache, nach deutschem Schulrecht, an unseren Schulen. Und ich denke, das ist ein ganz entscheidendes Mittel für die Integration und auch zum echten Kennenlernen des Islam. Davon verspreche ich mir viel. Und dann, glaube ich, könnte eines Tages auch der Satz, dass der Islam zu uns gehört, wahr werden – noch ist er aber unwahr.
Karl Kardinal Lehmann: Und noch etwas: Ich wünsche mir natürlich, dass ich meinerseits gut behandelt werde, wenn ich nach Saudi-Arabien oder in die Türkei komme. In Saudi-Arabien könnte ich keine Eucharistiefeier abhalten, wenn ich mich nicht in eine Botschaft verziehe oder in eine Schule, die unter Umständen unter einem besonderen Schutz steht. Rechtlich ist da Religionsfreiheit in vielem Fällen noch nicht realisiert. Das müssen wir einfordern – aber auch der anderen Seite Zeit lassen. Wir haben ja selber lange gebraucht, bis das Recht, das wir heute haben, sich entwickelt hat.
Ulrich Wickert: Angesichts der vielen Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche wird heute vielfach die Aufhebung des Zölibats gefordert. Wie stehen Sie dazu?
Karl Kardinal Lehmann: Es ist von namhaften forensischen Psychiatern deutlich gesagt worden, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch nicht besteht. Erst seit ungefähr 20, 25 Jahren wissen wir, dass sexueller Missbrauch nicht ein gelegentliches Versagen von Menschen ist, sondern ein Hang, der fest im Menschen wurzelt. Eine amerikanische Ordensschwester, die da sehr spezialisiert war, sagte mir vor 25 Jahren: Diese Leute werden lügen bis zuletzt. Zweitens, Sie müssen davon ausgehen, dass das eigentlich nicht therapierbar ist. Und drittens dürfen Sie so jemand nicht wieder in die Seelsorge schicken, besonders wenn es um Kinder geht. Ich bin damals sehr erschrocken, weil ich mich als Theologe und Kirchenmann fragte: Gibt es denn etwas, wovon Menschen sich gar nicht befreien können? Dann musste ich im Laufe der Jahre einsehen, dass in manchen Fällen eben doch keine Umkehr möglich ist. Diese Tatsache haben wir in ihrem lebenszerstörerischen Gewicht unterschätzt, aber nicht nur wir. Missbrauch kommt in den Familien, im Sport, im Beratungswesen vor. Er ist eine grausame Geschichte. Eine wirkliche Wunde am Leib der Kirche. Wir müssen alles tun, um sie zu heilen. Und die Kirche muss lernen, was sie eigentlich immer schon wusste, aber nicht ernst genug genommen hat, dass in ihr selbst auch ein Stück Welt ist.
Ulrich Wickert: Können Sie sich an Ihr erstes Weihnachten erinnern?
Karl Kardinal Lehmann: Das erste Weihnachten, an das ich mich erinnere, war das im schlimmen Jahr 1942. Da war ich sechs Jahre alt. Mein Vater war im Krieg. Wir hatten große Sorge, weil wir nichts mehr von ihm hörten. Wir waren damals froh, wenn wir ein paar neue Socken bekamen. Trotzdem hat mich Weihnachten, die Festlichkeit, die Musik, die Atmosphäre, das Vertrauen der Menschen in Weihnachten getragen. Und insofern ist Weihnachten für mich etwas geblieben, das in der Not hilft und Zuversicht spendet. Ich werde auch in diesem Jahr wieder meine Weihnachtskarte nehmen mit dem Motiv „Flucht nach Ägypten“, um zu zeigen, dass Jesus in diese ganz konkrete Welt kam, sie mit uns durchschritten hat. Und das kann uns neue Hoffnung geben.