Ulrich Wickert

Artikel von mir

Wickert und Münkler über Mythos und Revolution

04.07.2009, welt.de

Barbarossa, das Nibelungenlied, die Dolchstoßlegende – die Deutschen hatten ihre Heldenerzählungen. Aber nach 1945 haben sie ihre Mythen hinter sich gelassen. Nicht einmal die Wiedervereinigung hat es zum Mythos geschafft, beklagt Herfried Münkler im Gespräch mit Ulrich Wickert auf WELT ONLINE. 

Ulrich Wickert: Sie haben das Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ geschrieben. Was ist ein „Mythos?“

Herfried Münkler: Ich habe versucht, den Begriff des Mythos als eine sinnstiftende, bedeutungsinvestierende Erzählung anzulegen. Dabei können geschichtliche Ereignisse, aber auch literarische Figuren, Zukunftsentwürfe eine Rolle spielen. Tendenziell ist alles für den Mythos brauchbar. Wobei hier jedoch zu bedenken ist: Der Mythos überformt historische Ereignisse ein bisschen, wenn man böse sein will, sagt man, er erzählt Lügen. Aber man könnte auch sagen, er nimmt sich eine gewisse Freiheit im Umgang damit. Er zählt Dinge zusammen, die vielleicht gar nicht zusammen gehören, er komprimiert sie. Auf diese Weise spricht er von der Vergangenheit in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft.

Wickert: Warum entsteht ein Mythos? Weil etwas Besonderes dargestellt werden soll. 

Münkler: Ja, beispielsweise wenn man einen Gründungs-Mythos sucht, nicht um die Frage zu klären: „Wer sind die Deutschen“, sondern: „Wann sind die Deutschen erstmals aufgetreten?“ Dann kann man nicht irgendein beliebiges, von niemandem bemerktes Ereignis hervorzurren, sondern man muss ein großes Ereignis haben. Aber in der Regel ist dieses große Ereignis mit denen, die dadurch Identität gewinnen sollen, nur durch dünne Bänder verbunden. Darum muss man diese Bänder dick und stark erzählen. Man muss dem Ganzen eine Bedeutsamkeit, eine Intensität verleihen, die weit über das hinausgeht, was die Historiker dann wieder an entmythisierender Arbeit betreiben; eigentlich ein sehr munteres und interessantes Spiel.

Wickert: Wer oder was sind die Deutschen?

Münkler: Schwierig. Sicherlich wird man kaum sagen können, dass sie vor 2000 Jahren irgendwo zwischen Detmold und Kalkriese schon als Deutsche da waren, sondern sie haben sich geformt im weiteren Sinne auch durch Literatur und literarische Erzählungen.

Wickert: Sind die Deutschen besonders empfänglich für Mythen?

Münkler: Das vermag ich nicht zu beurteilen. Aber sie hatten auf Grund bestimmter Konstellationen Mythen in anderer Weise nötig als die westlichen Nachbarn.

Wickert: Welche Konstellationen meinen sie?

Münkler: Die Franzosen waren zum Zentralstaat schon früh gekommen, den hat es in Deutschland so nicht gegeben. Und sie haben dann mit der großen Revolution von 1789 die Nation zur Staatlichkeit hinzugefügt. Das war in Deutschland aus vielerlei Gründen so nicht möglich. Also musste der Mythos, die große Erzählung, an die Stelle des institutionellen Gerüsts der Staatlichkeit treten. Insofern sind im 19. Jahrhundert ungeheuer viele Mythen erzählt worden. Nach dem Prinzip: Einer genügt nicht, wir müssen das gleich mehrfach bringen, um diese französische Überlegenheit in irgendeiner Form zu kompensieren.

Wickert: Die Zukunft, die Sie angesprochen haben, kommt in einem Mythos wie der Barbarossa-Sage vor: Der schläft, und eines Tages kommt er und wird die Deutschen retten. 

Münkler: Ja. Barbarossa dient eigentlich ab dem 18. Jahrhundert als eine Form der Bewältigung einer als politisch schlecht empfundenen Gegenwart. Man ist, wie es die maßgeblichen Intellektuellen und Schriftsteller empfinden, ein zerrissenes Land, und man möchte sich vergewissern, dass diese Zerrissenheit eher eine Übergangsphase ist als ein Dauerzustand. Und so erinnert man sich an eine Zeit, die man jedenfalls in der mythischen Erzählung als eine nationale Hochzeit darstellt, nämlich die Zeit der Staufer, insbesondere Friedrichs des I., des Rotbarts, des Barbarossa und knüpft daran die Vorstellung, der werde einst wiederkehren. Dann werde das Reich wieder errichtet, und es werde eine segensreiche Zeit anbrechen.

Wickert: Was ist für Sie der herausragende Mythos der Deutschen? Ist es das Nibelungenlied?

Münkler: Vermutlich. Weil das Nibelungenlied die höchste Auseinandersetzungsintensität gehabt hat und auch am tiefsten in die deutsche Geschichte eingegriffen hat in der Selbstidentifikation mit Siegfried. Dann die Geschichte vom Dolchstoß, die als Hypothek der Weimarer Republik gilt.

Wickert: Dolchstoß, das ist Hagen, der Siegfried umbringt.

Münkler: Genau. Im Nibelungenlied ist es ja der Speerstoß von hinten. Um aber die besondere Heimtücke herauszustellen dann der Dolchstoß. Und dann das Umstellen der Erzählung eher auf Wagner. Was da zu Tode gekommen ist, war gar nicht Siegfried, sondern Sigmund, und wir können noch einmal neu anfangen: Hitler selber, aber auch seine Entourage, die solche Vorstellungen hatte, und schließlich am Endpunkt dann der Todeskampf des burgundischen Heeresaufgebots in Etzels großer Halle, die von Göring am 31. Januar 1943 mit dem Endkampf der sechsten Armee in Stalingrad verglichen wird. So kann man sagen, die Nibelungengeschichte zieht sich wie ein roter Faden vom Anfang des 19. Jahrhunderts durch die deutsche Geschichte. 

Wickert: Schon 1917 sprach man in der Armee bereits vom Dolchstoß.

Münkler: Ja. In der Armee sprach man mit den ersten Streiks der Munitionsarbeiter in der Heimat davon: Der Held an der Front kämpft und ist im Felde unbesiegt, und man fällt ihm in den Rücken, und nur so ist er zu Fall zu bringen. Das ist eine Vorstellung, die nicht nur bei der nationalistischen Rechten eine Rolle gespielt hat, sondern die in modifizierter Form bis hin zu den Kommunisten eine Rolle spielt. Etwa, wenn die Sozialdemokraten als diejenigen bezeichnet werden, die der Revolution von 1918/19 den Dolch in den Rücken gestoßen haben.

Wickert: Das Nibelungenlied ist alt. Es kommt zu seiner Wirkung erst im 19. Jahrhundert. Wer bringt das Lied in die Gegenwart? Sind das die Künstler? Sie haben von Wagner gesprochen: Dann ist das Aufmischen eines Mythos nicht eine politische, sondern eine intellektuelle Tat, die aus dem Volke kommt?

Münkler : Richtig. Im Falle des Nibelungenliedes, das wird erst Ende des 18. Jahrhunderts gleichsam wieder entdeckt, war verschollen und verbindet sich dann mit der entstehenden Germanistik. Es hat auch etwas mit Institutionenpolitik zu tun, weil die Germanisten auf diese Weise eine Chance haben, sich in den neu formierten Universitäten zu verankern. Aber im anderen Fall: Anfang des 19.Jahrhunderts sitzen Clemens Brentano und Achim von Arnim in Heidelberg und sammeln Rhein-Mythen, oder Wackenroder und Tieck machen sich von Erlangen aus auf die Wanderschaft durch Franken und mythisieren das Altfränkische; diese Butzenscheiben. Das sind literarische Taten. Die beiden zentralen Figuren sind zweifellos Richard Wagner und Heinrich Heine: Wagner, der es eher ins Sakrale wendet, und Heine, der sein munteres Spielchen mit diesen mythischen Erzählungen treibt.

Wickert: Sie zählen auch Personen zu den politischen Mythen. Luther etwa. Wohl wegen seines Satzes: „Ich stehe hier und kann nicht anders.“ Was bedeutet der als Mythos? 

Münkler: Eine Form der charakterlichen Selbstvergewisserung: Innerlichkeit, radikal nach außen gekehrt. Mein Glaube, meine Überzeugung, die lassen sich nicht ändern. Auch nicht unter politischen Zwängen. Deswegen gehört auch immer dazu, dass Luther diese Formel vor Kaiser und Reich gesagt haben soll. Es ist also eigentlich eine erstaunliche Selbstidentifikation des deutschen Mannes in einer obrigkeitskritischen, ja widerständigen Position, von der man vermuten sollte oder lange auch vermutet hat, dass sie den Deutschen nicht unbedingt in ihren Nationalcharakter eingeschrieben sei.

Wickert: Mit dem Bruch, der durch die deutsche Geschichte wegen des Dritten Reiches geht, wurden die alten Mythen abgelegt. Dann bauen wir neue auf, die jetzt aber ganz anders konstruiert sind. Im Westen wird es die Mark. Sie wird zum Gründungsmythos.

Münkler: Zarah Leander singt in einem der Durchhaltefilme der NS-Zeit „Es wird einmal ein Wunder geschehen“, und die Wunder geschehen tatsächlich: das Wunder von Bern, das Wirtschaftwunder und nicht zu vergessen auch das Fräuleinwunder. Die Deutschen sehen diese Ereignisse als etwas Wunderbares. Diese Verbindung von Mark und Wirtschaftwunder ist es, was der Bundesrepublik in einer Weise politische Stabilität verleiht, gleichsam aus dem Rückraum, ohne dass das groß intendiert worden wäre. Das ist sozusagen eine mythische Erzählung, an der jeder teilhat, der über die Alpen fährt, die Sonne des Südens genießt und zahlungsfähig ist, denn zur Mark gehört ja auch das Ende der Devisenzwangsbewirtschaftung und Konvertibilität. Also eine Geschichte, die man den Leuten nicht vermitteln muss, weil sie ein Bestandteil ihres Gedächtnisses ist. Das gehört zu den großen Erfolgsgeschichten dieser Zeit.

Wickert: Die Deutschen, sagen Sie, seien von den Mythen geheilt. Auch der 9. November 1989 habe es nicht zum Mythos geschafft.

Münkler: Ich bin traurig darüber, dass es noch nicht gelungen ist, diese fulminante Geschichte von den Montagsdemonstrationen bis zum Fall der Mauer und auch noch etwas danach, stärker, gleichsam als eine neue politische Gründungserzählung der Berliner Republik, zu verankern.

Wickert: Das ist von den Westdeutschen verhindert worden. Die Ostdeutschen hätten es gemacht. Aber die Westdeutschen wollten es nicht, weil Leute wie Habermas gesagt haben, wir sind in einer postnationalen Gesellschaft, jetzt machen uns das die Ostdeutschen kaputt, indem sie sich zu deutschen Symbolen bekennen.

Münkler: Das ist richtig. Die politische Klasse hat den 9. November nicht besonders geliebt, sondern hat an die Stelle dessen den 3. Oktober lanciert, denn da konnten sie sich selber und ihre Leistungen in den Zwei-plus-vier-Gesprächen feiern.

Wickert: Ich habe einmal Schäuble gefragt, wieso ist der 3. Oktober zum Staatsfeiertag gemacht worden? Da sagte er: Ich habe damals Bundeskanzler Kohl gefragt, welchen Tag nehmen wir? Er hat gesagt, ist mir egal, aber nehmen Sie einen Tag, wo das Wetter noch schön ist und die Leute spazieren gehen können. 

Münkler: Das ist sicherlich ein Argument, das man nicht leicht von der Hand weisen kann, denn die Feiern zum 60. Jahrestag zur Ingeltungssetzung des Grundgesetzes konnten ja auch nicht anders als ein Volksfest inszeniert werden. Das Volksfest ist sozusagen die Form des deutschen Staatsfeiertages geworden. Aber es ist vielleicht eine etwas dünne Begründung, wenn man überlegt, wofür der 9. November stehen könnte. Ich bin großgeworden mit dieser Erzählung: „Was ist das Unheil der deutschen Geschichte? Nie eine richtige Revolution hinbekommen!“ Hätten wir das geschafft wie die Franzosen oder die Amerikaner, dann wäre die deutsche Geschichte sehr viel besser gelaufen. Nun haben wir tatsächlich im Oktober und November so etwas wie eine Revolution hinbekommen. Aber das wird dann so liegengelassen. Das ist ein Problem. Ich glaube allerdings, wenn die große Illusionsmaschine Fernsehen angeworfen wird, dass die gefühlsbewegenden Bilder des 3. Oktober fehlen werden, wohingegen der 9. November in irgendeiner Weise jeden, der eine Erinnerung daran hat, affiziert. Insofern wird dieser Tag – egal, wann die politische Klasse feiert – dann doch der Bezugspunkt werden.

Quelle: WELT ONLINE