Ulrich Wickert

Artikel von mir

Mein Frankreich

30.01.2023, Süddeutsche Zeitung

Wir Deutschen sollten uns wieder unseren Nachbarn zuwenden – mit Esprit und heißem Herzen. Der Aufruf eines Liebenden.

42 Jahre nach dem Krieg, im Mai 1987, fand in Lyon der Prozess gegen den SS-Hauptsturmführer Klaus Barbie statt, genannt der „Schlächter von Lyon“. Als Nebenklägerinnen traten Frauen auf, deren Männer und Kinder von Barbie gefoltert und ermordet worden waren. Einige konnte ich als Fernsehjournalist sprechen, eine sagte: „Sie sind der erste Deutsche, mit dem ich seit vierzig Jahren spreche.“ Als ich die Frauen erzählen hörte, fiel es mir schwer, die einem Journalisten gebotene Nüchternheit zu bewahren. Ich vergesse nie Barbies leere Augen, mit denen er aus der Anklagebox in den Gerichtssaal schaute. Ich bat den Kameramann, diese Augen in Großaufnahme eine Minute lang zu drehen und sendete sie in meinem Bericht für die „Tagesschau“. Es waren Augen ohne jedes Gefühl. Er hatte in Frankreich gemordet im Namen Deutschlands. Die erste Erinnerung an Frankreich?

1956. Die Familie war aus Heidelberg nach Paris gezogen, wo mein Vater als deutscher Diplomat arbeiten würde. Im Sommer mieteten wir ein Häuschen am Meer in Franceville. Normandie. Ich war 13, der Krieg erst elf Jahre vorbei. Auch in Franceville war gekämpft worden. Gleich nach unserem Einzug malte jemand Hakenkreuze an den Zaun. Ein paar Monate zuvor war ich in Paris in eine französische Schule gesteckt worden, obwohl ich kein Wort Französisch sprach. Der französische Lateinlehrer sagte mir: „Du kannst den Lateintext auch ins Deutsche übertragen. Ich verstehe das. Ich war in deutscher Kriegsgefangenschaft.“ Nach drei Jahren auf der französischen Schule sprach ich fließend Französisch. Für meine Mitschüler war ich jetzt so was wie ein Franzose. Aber: Zum wahren Verständnis gehört mehr als nur die Sprache.

Großvater zeigte die Fotos mit Pickelhaube und schwärmte von den Schlachten an der Marne

Krieg zwischen Frankreich und Deutschland war für mich als jungen Schüler, obwohl im Frieden lebend, eine Art historischer Dauerzustand: In Heidelberg hatten wir im Geschichtsunterricht gelernt, dass die Franzosen im Pfälzischen Erbfolgekrieg Ende des 17. Jahrhunderts das Schloss von Heidelberg zerstört, Hunderte Heidelberger in die Heiliggeistkirche eingesperrt und das Gotteshaus dann angezündet hatten. Der französische Brigadier Comte de Mélac, der für diese Grausamkeiten verantwortlich war, blieb in Heidelberg bis in die Jahre um 1950, in denen ich dort zur Schule ging, unvergessen. Manche nannten ihre Hunde in Erinnerung an die von ihm befohlenen Gräueltaten „Mélac“. Der Rhein wurde zur Grenzlinie zwischen dem Reich und den angeblich „blutrünstigen“ Franzosen. Der Begriff des „Erbfeindes“ schaffte es noch bis in die Köpfe unserer Großeltern.

Zu meinen Erinnerungsstücken gehört ein Foto, das mir mein Großvater mitbrachte, als er uns 1957 in Paris besuchte. Es zeigt ihn im Januar 1914 in Galauniform mit Pickelhaube, als er die Ehre hatte, bei Kaisers Geburtstag aufzumarschieren. Auf die Rückseite hatte er geschrieben: „Erinnerung an stolze deutsche Vergangenheit.“ Wir Enkel lachten heimlich über die uns mittelalterlich erscheinende Verkleidung. Pickelhaube! So was konnte man in Paris auf dem Flohmarkt kaufen. Großvater hatte 1914 am Feldzug gegen Frankreich teilgenommen und war uns nun in Paris besuchen gekommen, um von hier aus noch mal zu den alten Schlachtfeldern zu fahren. Als er abends vom Ausflug an die Marne zurückkam, meinte er: „Die Deutschen hätten weiter vorrücken sollen und Paris nehmen können! Wir vorne hätten es zwar alle nicht überlebt. Aber das wäre halt nicht zu ändern gewesen.“

Eine Folge des Élysée-Vertrages von 1963 war die Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks, das uns Studenten an der Universität in Bonn sofort begeisterte. Mitglieder von AStA, Studentenparlament und Fachschaften beschlossen, eine Reise zu den Studentenvertretern an Bonns französischer Partneruniversität Toulouse zu unternehmen. Eine Woche, finanziert vom Jugendwerk. Die Franzosen erhielten für den Besuch der deutschen Studentengruppe eine großzügige Unterstützung aus dem Büro in Paris, wir für die Reise eine ebenso großzügige Unterstützung aus Bonn. Motto „doppelt genäht hält besser“. Ich erinnere mich an kein straff durchorganisiertes Kulturevent für die Galerie – dafür an fröhliche Feste in Toulouse und sehr viel Rotwein.

Wir hatten zwar die Rede des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle an die deutsche Jugend aus dem September 1962 in Ludwigsburg nicht im Kopf, aber wir folgten doch de Gaulles Vorschlägen. Er sagte: „Während es die Aufgabe unserer beiden Staaten bleibt, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit zu fördern, sollte es Ihnen und der französischen Jugend obliegen, alle Kreise bei Ihnen und bei uns dazu zu bewegen, einander immer näher zu kommen, sich besser kennenzulernen und engere Bande zu schließen.“

Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) und der französische Präsident Charles de Gaulle bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages 1963 in Paris
Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) und der französische Präsident Charles de Gaulle bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages 1963 in Paris (FOTO: UPI/DPA)

1969 trat Charles de Gaulle zurück. Inzwischen war ich junger Journalist beim WDR-Fernsehen. Weil ich fließend Französisch sprach, wurde ich zur Wahl seines Nachfolgers für eine Reportage nach Paris geschickt. Pompidou gewann. In Bonn wurde wenige Monate später – im Oktober 1969 – Willy Brandt Bundeskanzler. Sie haben sich beide wenig um die deutschfranzösische Verständigung gekümmert, da die „persönliche Chemie“ zwischen ihnen nicht stimmte. In den folgenden Jahrzehnten habe ich dann aus der Nähe erlebt, wie persönliches Vertrauen zwischen Politikern aus Paris und Bonn, später Berlin, die Zeitläufte beeinflusst.

Pompidou starb 1974, wieder wurde ich zum Wahlkampf nach Frankreich geschickt. Zum ersten Mal interviewte ich den jugendlichen Kandidaten Valéry Giscard d’Estaing, der drei Tage nach der Wahl von Helmut Schmidt zum Bundeskanzler in das Amt des französischen Präsidenten gewählt wurde. Schmidt und Giscard waren zu diesem Zeitpunkt schon enge Freunde, beide hatten ihrem jeweiligen Land als Finanzminister gedient. Kaum war er Präsident, lud Giscard den deutschen Bundeskanzler nach Paris ein. Der deutsche Freund sollte sein erster Besucher sein. Damit wurde die Tradition begründet, wonach jeder neu gewählte deutsche Regierungschef sich zuerst in Paris vorstellt, jeder neu gewählte französische Präsident als Erstes in die deutsche Hauptstadt reist.

Giscard und Schmidt bewiesen: Es geht nicht nur ums Protokoll, es geht um Leidenschaft

Schmidt und Giscard haben den Grundstein für jenes Gipfeltreffen gelegt, zu dem sich unter dem Begriff „G7“ jedes Jahr die Chefs der sieben wichtigsten westlichen Industrienationen versammeln. Das Wichtigste: Sie haben 1979 das Europäische Währungssystem aus der Taufe gehoben, woraus der Euro entstehen würde.

Giscard ging gern im Elsass auf die Pirsch und kam häufig an dem Sterne-Lokal „Au Boeuf“ in Blaesheim vorbei. Und da er sich regelmäßig mit Helmut Schmidt traf, dachte er: Hierhin lade ich Helmut zum Abendessen ein. So fuhr Giscard also eines Tages im Jahr 1977 nach Blaesheim und erwartete dort – auf der Straße stehend – seinen deutschen Gast. Das ganze Dorf war in traditionellen Trachten angetreten. Helmut Schmidt kam mit seiner Hamburger Lotsenmütze. Giscard wusste: Helmut war Leutnant im Zweiten Weltkrieg gewesen. Aber er, Valéry, war als junger Mann auf dem ersten französischen Panzer in Konstanz eingefahren. Giscard fragte sich, ob es gelingen würde, die Ruinen des Krieges zu überwinden. Die Straße in Blaesheim war ein Fahnenmeer von Trikoloren, und Giscard erinnerte sich: „Le chancelier germanique y était bienvenu.“ Der Kanzler aus Germanien war dort willkommen.

Zwei Jahre vor seinem Tod bat mich Helmut Schmidt, ein Gespräch mit ihm und Giscard im Palais Beauharnais, der Residenz des deutschen Botschafters in Paris, zu moderieren. Er sagte, es werde sein Abschiedsbesuch in Frankreich sein. Le tout

Paris war gekommen. Am Ende des Gesprächs mit seinem Freund Giscard gab Schmidt sein Bekenntnis zu Frankreich ab: Bei allen außenpolitischen Entscheidungen, die er zu treffen hatte, habe er immer zunächst daran gedacht, was dies für die Beziehung mit Frankreich bedeute. Immer! Und er wisse, dass die Zukunft Europas ausschließlich in beider Hände liege. Das französische Publikum, Minister, Wirtschaftsführer, Intellektuelle haben sich daraufhin erhoben und ihn mit langem Applaus gewürdigt.

Auf Giscard folgte François Mitterrand, der nach einer Verwundung in Verdun in die Hände der Deutschen gefallen war, aber aus deutscher Kriegsgefangenschaft fliehen konnte. Mitterrand verfügte über einen besonderen Sinn für Erinnerungskultur. So beschloss er, am 6. Juni 1984 zum 40. Jahrestag der alliierten Landung an der Küste der Normandie die Staats- und Regierungschefs der fast zwanzig an der Landung beteiligten Länder einzuladen: In den Tagen der Landung waren etwa 65 000 alliierte und 200 000 deutsche Soldaten umgekommen. Zugesagt hatten US-Präsident Ronald Reagan, Königin Elizabeth II. aus London, Monarchen aus Holland, Belgien und Norwegen und Dutzende Regierungschefs. Nicht eingeladen wurde der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, was den wurmte. Doch Deutschland war zweigeteilt, und die Franzosen wollten auf Erich Honecker verzichten.

Als Korrespondent in Paris kam mir die Aufgabe zu, den ganzen Nachmittag, drei Stunden lang, von der Küste aus in der ARD zu moderieren. Um mich auf diese Aufgabe vorzubereiten, beschloss ich, einen Monat vor den Festlichkeiten für einige Tage die entscheidenden Orte des D-Day in der Normandie zu erkunden. Auf den riesigen Soldatenfriedhöfen fiel mir auf, dass die meisten Gefallenen noch unter 20 Jahre alt gewesen waren, als sie gefallen waren. Nur mit Glück ergatterte ich in einem kleinen Hotel an der Küste ein Zimmer. Während des Essens unterhielt ich mich mit einem mitgereisten Freund auf Deutsch. Da drehte sich ein Mann in Arbeitskleidung von der Theke aus um und sagte ganz nüchtern: „J’aime pas les Allemands – Ich mag die Deutschen nicht.“ Ich fragte: „Pourquoi pas? – Warum nicht?“ Er überlegte einen Augenblick, dann: „J’sais pas – ich weiß nicht.“ Und drehte sich wieder um.

Um Helmut Kohl zu besänftigen, schlug ihm Mitterrand dann ein eigenes Gedenken vor – im September des gleichen Jahres. Der Kriegsanfang 1914 würde sich zum 70. Mal jähren.

Und so standen Mitterrand und Kohl am Ende des 22. September 1984 vor den Kreuzen von gefallenen Franzosen und Deutschen vor dem Beinhaus von Douaumont. Dort sind 130 000 Soldaten aus der Schlacht von Verdun beerdigt. Durcheinander, Franzosen wie Deutsche, deren Gebeine man nicht mehr identifizieren konnte. Auf dem Friedhof haben die Gefühle den französischen Staatspräsidenten und den deutschen Kanzler dann übermannt.

Plötzlich standen sie da Hand in Hand.

Es wurde der längste „Tagesschau“-Bericht, den ich je gesendet habe. Er dauerte mehr als sieben Minuten, üblich sind 90 Sekunden.

So harrten am späten Nachmittag der Franzose, der im Zweiten Weltkrieg kämpfte, und der Deutsche, der seinen älteren Bruder in diesem Krieg verlor, inmitten von Kreuzen aus. Später fragte ich François Mitterrand, wer von beiden die Geste initiiert habe. Mitterrand antwortete, er habe plötzlich das Bedürfnis gespürt, aus seiner Vereinsamung herauszutreten und mit einer Geste Helmut Kohl zu erreichen. Da habe er seine Hand ausgestreckt, und Kohl habe sie ergriffen. Helmut Kohl hat mir dies bestätigt. Ihn habe die Geste Mitterrands erleichtert. Mitterrand, der seine Gefühle stets für sich bewahrte, blickte trotz dieser Gebärde weiterhin in sich hinein, während Helmut Kohl in diesem Augen- blick befreit zu dem Franzosen hinüberschaute, dankbar für diesen nur scheinbar kleinen Ausdruck von Menschlichkeit.

Nur fünf Jahre nach dem Gedenken in der Normandie und in Verdun veränderte sich die Welt mit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs und der anstehenden Wiedervereinigung.

Da offenbarte Michel Debré, ehemaliger französischer Premierminister und engster Vertrauter von Charles de Gaulle, seine Angst vor den Deutschen: „Wir stehen in einer Zeit des Krieges und nicht des Friedens.“ Debré fürchtete eine neue Art des Krieges: Wirtschaftlich, kulturell und demografisch werde er geführt – aus der ständigen Angst des 19. Jahrhunderts, Frankreich könnte aussterben. Und da kenne man ja die „germanischen Wünsche“. „Man muss Angst haben vor den Deutschen“, druckte die Wirtschaftszeitschrift Challenges auf ihr Titelblatt. Es war ein beliebtes Thema in der französischen Presse. Zu ihrer Angst vor Deutschland bekannte sich selbst die Literatin Marguerite Duras: „Die ganze Welt hat Angst vor Deutschland (…) auch ich habe Angst vor dem Deutschland von früher. Heut immer noch. Zwar ist der Krieg seit fünfundvierzig Jahren zu Ende, aber trotzdem habe ich noch Angst.“

Ich spürte überall Ängste, was mich damals veranlasste, ein Buch mit dem Titel „Angst vor Deutschland“ herauszugeben. Jede Form der Angst weist hier Roland Dumas, damals Außenminister Frankreichs, in seinem Beitrag zurück: „Für mich liegen die Gründe dieser Angst in der Fixierung auf die Vergangenheit, von der nur ein bruchstückhaftes und äußerst grob gezeichnetes Bild zurückbleibt. (…) Die Freiheit von heute fegt allen Hass der Vergangenheit hinweg. Geben wir den wenigen unbegründeten Ängsten nicht die geringste Chance, ihn wiederaufleben zu lassen.“

Roland Dumas selbst ist einen weiten Weg gegangen. Seinen Vater hatten die Deutschen als Geisel erschossen. Er selbst war von der Gestapo verhaftet worden, konnte aber fliehen. Dumas sagte mir: „Ich war getränkt von Germanophobie. Aber zu einem gegebenen Zeitpunkt hat dann die Vernunft bei mir überhandgenommen.“ Er entwickelte mit dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher ein besonders enges Vertrauensverhältnis, was in der Zeit der Wiedervereinigung äußerst wertvoll war. Freundschaft gründet also zunächst auf Vertrauen. Doch das reicht nicht, um zu verstehen. Verstehen bedingt die Kenntnis der Identität des anderen. Das aber setzt etwas voraus: dass man seine eigene Identität akzeptiert.

Und genau darin liegt heute ein deutsch- französisches Missverständnis.

Mitte der 80er-Jahre veröffentlichte der französische Historiker Fernand Braudel sein Alterswerk: „L’identité de la France“. Ich habe daraus viel über Frankreich gelernt. Am Tag der Deutschen Einheit 1994 sagte ausgerechnet der konservative Bundespräsident Roman Herzog, er habe noch niemanden gefunden, „der mir erklären könnte, was ‚nationale Identität‘ eigentlich ist – ‚nationale Identität‘, die uns angeblich fehlt und die wir angeblich dringend benötigen“.

Deutsche Identität ist igitt? So denken wir. Mit tragischen Konsequenzen für ganz Europa

Nun, zur Identität gehören die Sprache, die Gefühle, die Kultur, besonders aber auch die Geschichte! Und Teil der deutschen Geschichte sind das Dritte Reich, die Konzentrationslager, die Gaskammern und die systematische Vernichtung von Millionen Menschen. Niemand möchte diese Gräuel in seiner Identität wiederfinden. Und da scheint es am einfachsten, die Existenz einer nationalen Identität kurzerhand zu leugnen. So denken selbst viele Intellektuelle auch heute noch in Deutschland. Leider.
Und in ihrer Berichterstattung fallen die Medien der jeweiligen Länder dann hingegen häufig in nationale Reaktionsmuster zurück. Sogar in nationalistische, wenn ich Nationalismus definiere als das Bewusstsein, in der eigenen Nation den höchsten Wert zu sehen – etwa in den Debatten über einen starken oder schwachen Euro.
Leider haben Angela Merkel und die Präsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande nicht den Elan von Giscard und Schmidt oder auch nur von Mitterrand und Kohl gezeigt. In der deutschen Politik fehlt seit Jahren auf strafwürdige Art und Weise das emotionale Bekenntnis zur deutsch-französischen Freundschaft – wenn wir grad mal von den üblichen Festreden zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages absehen. Vor einigen Monaten hat der französische Präsident Emmanuel Macron sogar bemängelt, Deutschland isoliere sich zunehmend in Europa.

„Vive l’amitié franco-allemande“: Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident Macron bei den Feierlichkeiten zu 60 Jahre Élysée-Vertrag am 22. Januar 2023 in Paris.
„Vive l’amitié franco-allemande“: Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident Macron bei den Feierlichkeiten zu 60 Jahre Élysée-Vertrag am 22. Januar 2023 in Paris. (FOTO: IMAGO / ANDREA SAVORANI NERI / NURPHOT)


Schon warnte Jacques Attali, Intellektueller und ehemaliger Berater des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand, aber auch des Konservativen Nicolas Sarkozy, ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland sei wieder möglich. Als ich die Warnung Attalis las, schüttelte ich den Kopf und sagte sofort: „Quatsch! Der Mann lebt im falschen Jahrhundert.“
Aber: Was wäre, wenn in Frankreich Populisten an die Macht kommen? Der linke Jean-Luc Mélenchon sieht in der deutschen Politik immer noch Bismarck am Werk. Deutschland sei eine Gefahr und bedrohe die französische Zivilisation. Mélenchon hat bei den letzten Wahlen gerade bei den jungen Menschen besonders gut abgeschnitten. Die rechte Populistin Marine Le Pen, die bei der Wahl nah an die absolute Mehrheit kam, würde mindestens die Zusammenarbeit in verteidigungspolitischen Fragen mit Deutschland beenden. Sie warf Deutschland vor, für „die absolute Verneinung der französischen strategischen Identität“ zu stehen.
Als Optimist glaube ich: Krieg zwischen Deutschen und Franzosen ist Vergangenheit. Ist uns aber bewusst, dass in beiden Ländern viel mehr in die Zukunft investiert werden muss? Immer weniger Schüler lernen Französisch oder Deutsch. Zu wenig wird die Kultur der Nachbarn unterrichtet. Das ist verhängnisvoll. Zu wenig wird die Bedeutung der Gemeinsamkeit für Europa vermittelt. Zu wenig in den Schulen, zu wenig in der Politik. Ich halte das für sehr gefährlich.
Der Weg, den ich in all diesen Jahrzehnten miterlebt habe, beruhigt mich. Deshalb wage ich zu sagen, es gibt kein Beispiel für eine solch rasante Entwicklung von einer „Erbfeindschaft“ hin zu dauerhaftem Frieden und Freundschaft. Selbstverständlich ist diese Freundschaft also zuletzt. Eine Freundschaft, die man nicht pflegt, ist in Gefahr. In diesem Sinne: „Vive l’amitié franco-allemande“!

Ulrich Wickert, 80, war zehn Jahre Korrespondent der ARD in Paris, bevor er 15 Jahre lang die „Tagesthemen“ moderierte. Er schrieb viele Sachbücher über Frankreich, zuletzt „Frankreich muss man lieben, um es zu verstehen“. Seit der Gründung der Académie de Berlin 2006, die sich der Pflege der Kultur zwischen Frankreich und Deutschland widmet, ist er deren Secrétaire perpétuel. Dieser Text ist die gekürzte Version der Rede Wickerts anlässlich des Tags zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus des rheinland-pfälzischen Landtags in der Konstantinbasilika von Trier.