Ulrich Wickert

Artikel von mir

Vom Segen der Selbstverpflichtung

12.07.22, Süddeutsche Zeitung

„Mein Sohn ist nach dem Abi nach Neuseeland gefahren, weil er nicht wusste, wie sein Leben weitergehen sollte. Dort traf er zwei Mädchen, die Medizin studierten. Dieses Erlebnis hat ihn dazu gebracht, Arzt werden zu wollen. Jetzt ist er in Münster als Medizinstudent eingeschrieben.“ Stolz erzählte mir ein Vater von seinem Sohn, der mit 0,9 abgeschlossen hatte. Ein anderer Abiturient war nach Thailand gereist, um dort ein bisschen als Lehrer auszuhelfen; eine junge Frau versuchte sich nach dem Abi für ein paar Monate als Helferin auf einer Affenfarm in Namibia. Die Suche nach sich selbst in der Ferne geht ganz einfach: Die Bundesagentur für Arbeit gibt Hinweise, wie man einen Job im Ausland finden kann im Programm „Work and Travel“.

„Meine Tochter wusste jetzt nach dem Abi auch nicht, was sie tun sollte. Da hat sie sich für ein freiwilliges soziales Jahr in Deutschland verpflichtet. Und sie findet das toll“, berichtete eine gute Bekannte.

Und das wiederum fand auch ich „toll“.

Schnell waren wir uns einig, dass ein soziales Jahr jungen Menschen einen tieferen Blick in die Gemeinschaft gibt und sie sich dadurch orientieren können. Das bestätigen viele, die das soziale Jahr gemacht haben – so auch Olaf Scholz und Robert Habeck. Und wir waren uns auch gleich einig, wie richtig sogar ein soziales Pflicht jahr sein könnte.

Dass das soziale Pflichtjahr eine wertvolle Idee und ein gutes Konzept ist, wurde mir klar, als ich 1994 an einem Essay über den Verlust der Werte in unserer Gemeinschaft arbeitete, das im gleichen Jahr als Buch mit dem Titel „Der Ehrliche ist der Dumme“ erschien.

Als Student hatte mich der Satz von John F. Kennedy beeindruckt, der bei Amtsantritt forderte: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst.“

Als ich mir aber „unser Land“ anschaute, fand ich die Aussage von Meinungsforschern, die ein „Orientierungsdefizit“ feststellten, das auf einen Wandel der Werte zurückzuführen sei. Fast die Hälfte der Deutschen verstanden die Welt nicht mehr. Als Ursache wurde damals angegeben, dass die individuelle Freiheit überbewertet, Normen abgewertet und Gemeinschaftsinteressen vernachlässigt würden.

Eine Gesellschaft funktioniert aber nur dann gut, wenn sie das Handeln ihrer Mitglieder durch ethische Werte, Normen, Regeln lenkt und es ihr gelingt, die Gemeinschaft zum Einhalten dieser ethischen Werte zu erziehen.

Nun wird der Mensch nicht mit dem Bewusstsein für ethische Werte geboren, er muss sie erst lernen.
Eine Gesellschaft kann nur dann friedlich leben, wenn unter ihren Mitgliedern ein genügender Zusammenhalt besteht, meint der Soziologe Émile Durkheim in „Erziehung, Moral und Gesellschaft“. Und dieser Zusammenhalt ist die Frucht von Erziehung, denn die Gesellschaft steht mit jeder Generation erneut vor der Aufgabe, das Verständnis für ihre Regeln weiterzugeben.

Erziehung betrifft jedoch nicht nur die Heranwachsenden, sondern jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft. So müssen auch Erwachsene erzogen werden, die Natur zu achten und die Erde zu schützen. Und die Kritik der jungen Generation an den Erwachsenen ist nicht ungerecht, wenn sie den Älteren vorwerfen: „Wieso wollt ihr uns Solidarität beibringen, wenn ihr in eurem Egoismus die Erde zerstört?“ Zur Erziehung der Erwachsenen dienen auch die öffentlichen Demonstrationen der jungen Menschen von „Fridays for Future“.

Wenn wir die Erderwärmung auch nur halbwegs in den Griff bekommen wollen, müssen wir uns solidarisch verhalten. Solidarität muss jedoch – wie jeder andere Wert – nicht nur verstanden, sondern auch eingeübt werden. So gehört zur moralischen Erziehung das praktische Erleben von Zusammengehörigkeit.

Dazu könnte das soziale Pflichtjahr dienen, um jungen Menschen ihren Weg in die Gemeinschaft zu zeigen. Das Individuum würde im Pflichtjahr lernen, was den Sinn einer Gemeinschaft ausmacht. Deshalb sollten den Jugendlichen bei der Ausübung des Pflichtjahres zur eigenen Auswahl möglichst viele gesellschaftliche Bereiche offenstehen: neben dem reinen Sozialdienst in Pflege, Krankenhäusern, Kindergärten, etc. der Umweltschutz, die Stadtpflege, die Entwicklungshilfe oder aber die Bundeswehr. Unter den Dienstarten darf es keine Unterschiede geben.