Ulrich Wickert

Artikel von mir

„Wir sind erwachsen geworden“

10.09.2011, Die Welt

Altbundeskanzler Gerhard Schröder im Gespräch mit Ulrich Wickert über den 11. September und die „uneingeschränkte Solidarität“ zu Amerika

Ulrich Wickert: In Ihrem Buch „Entscheidungen. Mein Leben in der Politik“ beschreiben Sie keinen Moment so präzise wie den Ablauf des 11. September 2001. Sind Ihnen diese Stunden auch heute noch nah?

Gerhard Schröder: Die sind mir noch bewusst, sicher auch emotional nah. Natürlich war das einer der Momente in meiner Laufbahn, die wirklich Veränderungen mit sich gebracht haben und an die ich mich deswegen genau erinnere.

Ulrich Wickert: Das war zunächst ein normaler Dienstag, „business as usual“, wie Sie schreiben. In der Woche standen die Haushaltsberatungen im Bundestag an, und Sie arbeiteten an der Rede.

Gerhard Schröder: Zuvor hatte Eichel den Haushalt eingebracht. Da muss man als Bundeskanzler Präsenz zeigen. Dann war der damalige ungarische Ministerpräsident da, er war damals noch etwas moderater und demokratischer, als das leider heute der Fall ist. Also, in der Tat business as usual. Und dann kam’s.

Ulrich Wickert: Da war es wieviel Uhr bei Ihnen?

Gerhard Schröder: Das muss so um 14 Uhr 45 gewesen sein, als die erste Maschine in das World Trade Center flog. Kurz darauf stürzte meine Büroleiterin, Frau Krampitz, in mein Büro und sagte: New York wird angegriffen. Kurz darauf rief meine Frau an, die das Ganze im Fernsehen gesehen hatte. Meine Frau hat eine enge emotionale Beziehung zu New York. Unsere ältere Tochter ist dort geboren. Meine Frau weinte. Sie hatte nämlich bereits die Folgen gesehen, die ja dann immer wieder gesendet wurden, unter anderem auch aus dem Fenster springende Menschen, die aus Angst zu verbrennen in den Tod sprangen – also, eine fürchterliche Situation. Das waren die ersten Eindrücke. Dann haben ich und mein engeres Umfeld im Kanzleramt gesessen und telefoniert, um das Bundessicherheitskabinett einzuberufen. Dem gehörte der Verteidigungs-, der Innenminister, der Außenminister an, die auch alsbald kamen.

Ulrich Wickert: Sie schreiben, Sie hätten in dem Moment geweint.

Gerhard Schröder: Eigentlich gehört das nicht da hin, aber sicher auch unter dem Eindruck meiner Frau und ihrer Verzweiflung ging mir das nahe. Und wenn man sich vorstellt, man selbst oder engere Angehörige wären in dieser Lage, das hätte ja sein können, ja, dann gibt es schon einmal solche Reaktionen. Aber von denen darf man sich in einem solchen Amt nicht überwältigen lassen.

Ulrich Wickert: Was haben Sie als erstes im Bundessicherheitsrat besprochen?

Gerhard Schröder: Wir haben uns zunächst über die Eindrücke ausgetauscht, die jeder von uns hatte. Die waren natürlich ähnlich emotional. Dann mussten wir überlegen: Was kann passieren? Uns war klar, dass die Vorkommnisse die politische Szenerie weltweit verändern würden. Uns war auch klar: Die amerikanische Administration würde die Anschläge nicht auf sich beruhen lassen können, nachdem deutlich wurde, dass die Terrororganisation al-Qaida dahinter steckte, die ja von den Taliban in Afghanistan geschützt wurde. Also haben wir diskutiert, was unsere Linie sein sollte. Es war für jeden von uns eindeutig: Wir würden an der Seite unseres Bündnispartners und Freundes stehen und auch militärische Mittel akzeptieren, wenn der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrages eintreten und der Weltsicherheitsrat die rechtlichen Voraussetzungen schaffen würde.

Ulrich Wickert: Und die Opposition?

Gerhard Schröder: Zunächst einmal konnten wir nicht so tun, als wenn wir am anderen Tag den Kanzlerhaushalt beraten würden mit dem üblichen Ritual. Also brauchten wir zunächst einmal das Einverständnis der Opposition, die Haushaltsberatungen zu verschieben. Das war auch sofort möglich. Im Laufe des Tages habe ich dann mit den Vorsitzenden der Fraktionen im Deutschen Bundestag und mit den Parteivorsitzenden telefoniert. Ich habe dann der Reihe nach mit Präsident Chirac, mit Premierminister Blair und mit Präsident Putin telefoniert. Ich habe veranlasst, dass Präsident Bush ein Telegramm geschickt wurde, in dem wir unsere Solidarität ausdrücken. Ich habe mit Bush nicht telefoniert, weil mir klar war, dass der jetzt etwas anderes zu tun hatte, als mit Staats- und Regierungschefs zu sprechen. Niemand wusste zudem, wo er in dem Moment war.

Ulrich Wickert: Sie haben nach der Sitzung des Bundessicherheitsrats erklärt: „Das deutsche Volk steht in dieser schweren Stunde an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich möchte Ihnen“, also Präsident Bush, „und dem amerikanischen Volk meine uneingeschränkte Solidarität aussprechen“. War Ihnen in vollem Umfang bewusst, was die „uneingeschränkte Solidarität“ bedeuten würde?

Gerhard Schröder: Ja. Uneingeschränkt hieß, dass wir auch mit militärischen Maßnahmen zu rechnen hatten und uns – unterstellt, die rechtlichen Bedingungen waren dafür gegeben – daran beteiligen würden. Es ging nicht um die Frage, welche Mittel eingesetzt werden würden. Es ging darum, gleich zu Anfang deutlich zu machen: Wir werden uns nicht scheuen, auf der Basis des Nato-Statuts und eines Beschlusses des Weltsicherheitsrats zu helfen, sollte es um eine militärische Intervention in Afghanistan gehen. In der Wahl, welche Mittel wir einsetzen würden, waren wir natürlich frei. Es hat damals ja eine skurrile Diskussion…

Ulrich Wickert: …Was meinen Sie mit „skurril“?

Gerhard Schröder: Damals haben einige Medien darüber diskutiert, ob taktische Atomwaffen eingesetzt werden würden. Dazu hätten wir unsere Zustimmung natürlich niemals gegeben. Aber das ist dann ja auch nie Wirklichkeit geworden. Meine Absicht war es, von Anfang an klarzumachen, dass wir notfalls auch zu militärischen Mitteln greifen würden, sollten die rechtlichen Bedingungen dafür stimmen. Das sollte klar sein, bevor es in Deutschland darüber zu einer Diskussion kommen würde.

Ulrich Wickert: Die US-Regierung startete im Oktober 2001 den Angriff auf Afghanistan. Am 8. November baten Sie das Bundeskabinett um die Zustimmung, deutsche Soldaten zum ersten Mal außerhalb Europas in einen Kriegseinsatz zu schicken. Herrschte einhellige Zustimmung?

Gerhard Schröder: Nein, das sicher nicht. Es war eine breite Übereinstimmung zwischen den Parteien, dass diese Form der Solidarität nötig sein würde – zwischen den Führungen der Parteien, auch der Opposition. Aber ich hatte darauf zu achten, dass die die Regierung tragenden Fraktionen auch bereit waren, sich entsprechend zu verhalten.

Ulrich Wickert: Also insbesondere die SPD.

Gerhard Schröder: Die SPD und die Grünen. Da gab’s natürlich unterschiedliche Meinungen. Und das musste man auch respektieren. Auch im Nachhinein finde ich es sehr viel besser, wenn ein Bundeskanzler um die Zustimmung zu einer militärischen Intervention kämpfen muss, als wenn er mit Pathos in den Krieg zieht, wie es im vorigen Jahrhundert üblich war.

Ulrich Wickert: Sie haben damals beschlossen, den Militäreinsatz mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Aus welchem Grund?

Gerhard Schröder: Ja, es gab eine Diskussion zwischen Rot und Grün, auch zwischen mir und dem Bundesaußenminister Fischer. Angesichts der Tatsache, dass die Union und Teile der FDP ihre Zustimmung signalisierten, kam die Frage auf, ob wir eine offene Abstimmung im Parlament zulassen sollten, so dass die Abgeordneten, die Gewissensprobleme hatten, frei nach ihrem Gewissen entscheiden hätten können. Fischer neigte dazu. Ich war dagegen – mit dem folgenden Argument: Um die Handlungsfähigkeit der Regierung nachzuweisen, brauchen wir in dieser Krisensituationen eine eigene Mehrheit. Wären wir auf die Stimmen der Opposition angewiesen gewesen, hätte das langfristig negative Wirkungen gehabt. Deswegen habe ich darauf gedrungen, die Mehrheit aus eigener Kraft zu erreichen. Es gab natürlich nur das Instrument der Vertrauensfrage, um – ich gestehe freimütig – den nötigen Druck aufzubauen: Wenn die Regierungskoalition nicht mehrheitlich mit Ja geantwortet hätte, hätten wir Neuwahlen bekommen.

Ulrich Wickert: Damals prägte Verteidigungsminister Struck das Wort: „Unsere Freiheit wird auch am Hindukusch verteidigt.“

Gerhard Schröder: Ich war nie besonders glücklich mit diesem Ausspruch. Meine Beweggründe, eine Intervention zu rechtfertigen und die Entscheidung dafür auf meine Kappe zu nehmen, hatte nichts mit diesem Struckschen Satz zu tun, sondern mit Bündnissolidarität. Eine Kraft, die von einem anderen Staat unterstützt wurde, nämlich von den Taliban, hatte unseren Bündnispartner Amerika auf dessen Territorium angegriffen. Der Weltsicherheitsrat hatte eindeutig Stellung bezogen. In der Situation nicht die Solidarität zu üben, die erbeten worden war, wäre fast unmöglich gewesen. Also habe ich gesagt, dies ist eine Frage der Bündnissolidarität. Ich habe nie daran geglaubt, dass man Afghanistan in eine Westminsterdemokratie verwandeln könnte.

Ulrich Wickert: 2001 begann der Einsatz in Afghanistan, und 2002 gab es in Amerika die Überlegung: Was geschieht im Anschluss? War die Bundesrepublik einbezogen in diese Überlegungen?

Gerhard Schröder: Wir haben immer wieder über die Frage diskutiert: Kann man die Gruppe um Osama bin Laden ausschalten? Ich erinnere an ein Gespräch in Amerika Ende Januar 2002, wo ich gesagt habe: Wenn al-Qaida beispielsweise im Irak tätig ist, dann gilt für mich prinzipiell das Gleiche wie in Afghanistan. Ich habe große Zweifel, ob ich eine ähnliche Entscheidung noch einmal hätte durchsetzen können – vermutlich nicht. Es stellte sich dann rasch heraus, dass man nicht davon ausgehen konnte, dass al-Qaida je im Irak aktiv gewesen war, wie uns bedeutet wurde. Auch unsere eigenen Informationen wiesen in eine andere Richtung. Dann änderte sich ja auch die Diskussion. Dann ging es um die Frage der Massenvernichtungswaffen im Irak. Das stellte sich auch als eine Fehlinformation heraus.

Ulrich Wickert: Von Ihnen stammt der Satz: „Deutschland wird sich an Abenteuern nicht beteiligen.“ Das heißt also, dass Sie der amerikanischen Regierung klargemacht haben: „Wenn ihr euch da eine Begründung ausdenkt, machen wir nicht mit.“

Gerhard Schröder: Ja, das ist so gewesen. Das hab ich auch durch hochrangige Beamte erklären lassen, die im Februar 2002 in Washington waren und unter anderem mit der Außenministerin Condoleezza Rice sprachen.

Ulrich Wickert: Sie beklagen in Ihrem Buch, dass Bush politische Entscheidungen immer damit begründete, dass sie ihm aus dem Gebet mit Gott gegeben wurden.

Gerhard Schröder: Nicht jede seiner Entscheidungen, aber es gibt gewisse Hinweise von ihm, die darauf hindeuten. Man muss Bush zunächst einmal zugute halten, dass er sich als tiefgläubiger Christ verhält. Aber wenn man politische Entscheidungen begründet gleichsam aus einer Zwiesprache im Gebet mit Gott, dann sind die Entscheidungen, die man auf diese Weise gefunden haben will, nicht mehr diskutabel. Denn wenn man von dort einen Auftrag bekommt, dann kann man das nicht mehr demokratisch diskutieren.

Ulrich Wickert: Sommer 2002 wurde klar, dass die USA den Krieg gegen den Irak führen wollten. Was war der Grund Ihrer Meinung nach?

Gerhard Schröder: Es gab ein Bündel von Gründen. Es hatte etwas zu tun mit der ersten Golfkriegsentscheidung von Bush senior, der viel klüger und zurückhaltender vorgegangen war. Es hatte auch mit der Diskussion um den Terrorismus zu tun. Sicher spielte auch die damals vorherrschende neokonservative Ideologie eine Rolle, dass man die Demokratie auch von außen verordnen könne. Schließlich muss man die inneramerikanische Diskussion als Folge von 9/11 berücksichtigen. Was mich dazu gebracht hat, schließlich Nein zu sagen, waren die wechselnden Begründungszusammenhänge. Zum Schluss blieb dann nach der Cheney-Rede im August 2002 nur noch „Regime Change“ übrig. Das ist kein Grund, einen Krieg zu führen.

Ulrich Wickert: Was haben wir aus den Turbulenzen der vergangenen zehn Jahre gelernt?

Gerhard Schröder: Zunächst haben wir gelernt, dass Deutschland außenpolitisch erwachsen geworden ist, also, dass wir Entscheidungen zu treffen haben. Ich habe seinerzeit gesagt: Deutsche Außenpolitik wird in Berlin gemacht. Ich hoffe, dass das auch so bleibt. Es sieht auch so aus, als wenn das so bliebe. – Das ist das eine. Das andere ist: Wir werden nie wieder in eine Lage kommen, uns bei internationalen Konflikten wegzuducken. Wir sind zu wichtig und zu erwachsen als Nation, um zu sagen, wir halten uns raus.