Ulrich Wickert

Artikel von mir

Es war wie im Paradies

08.05.2010, Welt der Literatur

Ingo Schulze war Stipendiat der Villa Massimo. Im Gespräch mit Ulrich Wickert zieht er ein Resümee seiner Erlebnisse in Italien und gibt Einblicke in sein neues Buch, das in Rom entstand

Ulrich Wickert: Sie waren jetzt Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Wie lebt es sich denn da so?

Ingo Schulze: Es ist in gewisser Weise schon das Paradies auf Erden. Andererseits ist es natürlich so, dass man seinen Alltag auch mit nach Rom nimmt.

Ulrich Wickert: Wie wohnt man dort?

Schulze: Relativ klein, aber das nimmt man in Kauf, weil man ja doch sehr viel Zeit im Freien verbringt. Man hat diesen wunderbaren Park und nach hinten hinaus noch eine Wiese zum Sitzen.

Ulrich Wickert: Nun sind dort ja Künstler aus ganz verschiedenen Disziplinen: Schriftsteller, Maler, Architekten, Musiker, Fotografen. Kommt es zum Gespräch, regt man sich gegenseitig an?

Schulze: Ja, schon, weil man im Alltag zusammen ist. Man geht zusammen einkaufen, oder man kocht zusammen. Wir haben auch viel Fußball gespielt miteinander. Man hat vom anderen etwas gelesen, gesehen, gehört. Das Verblüffende ist oft, dass man sich an ganz ähnlichen Dingen abarbeitet. Es ist schön, wenn man das bereden und in einem anderen Metier verfolgen kann.

Ulrich Wickert: Kann man „in Kultur schwelgen“, wie es mal ein Stipendiat ausgedrückt hat?

Schulze: Natürlich! Dazu muss man vielleicht nicht nach Rom fahren, aber das ist ja nun, wie überhaupt Italien, einer der Orte, wo man begreift, was historisch-kulturelle Schichten sind.

Ulrich Wickert: Wie sehen Sie Rom, nachdem Sie jetzt dort gewesen sind? Wie sehen Sie Italien? Berlusconi?

Schulze: Berlusconi sehe ich schon als eine Bedrohung der Demokratie. Italien ist uns so nah, das betrifft uns ganz unmittelbar. Und die politische Macht und die Medien nicht voneinander zu trennen, das halte ich für etwas, was sozusagen per Gesetz verboten werden müsste. Und ich verstehe auch nicht, dass man das, was in Italien passiert, so hinnimmt. Wenn man beispielsweise Pasolini liest, der schon Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre darauf hinwies, wie das Fernsehen die Gesellschaft verändert, die Leute verändert… Und verglichen damit ist das jetzt noch ein viel größerer Sprung! Wenn alles auf Unterhaltung ausgerichtet ist und dazwischen nur noch unterhaltsame Information durchkommt, dann ist das eine Katastrophe. Ich bin jetzt nicht mit einem grundlegend anderen Blick aus Italien zurückgekommen, denn seit die Mauer weg ist, war Italien immer das Land, in das wir gefahren sind und das ich sehen wollte: Mein West-Erlebnis war eigentlich ein Süd-Erlebnis. Es ist wirklich ein begnadetes Land, in dem so viel zusammenkommt, was in anderen Ländern immer nur häppchenweise zu finden ist.

Ulrich Wickert: Ihre Bücher sind ja auch ins Italienische übersetzt worden. Wie sehen die Italiener Berlin?

Schulze: In Italien habe ich gar nicht gesagt, dass ich aus Deutschland komme. Ich habe immer nur gesagt, ich komme aus Berlin. Das hat regelmäßig zu glänzenden Augen geführt; offenbar ist Berlin für die Italiener das völlig Andere. In Rom beispielsweise moderne Kunst zu machen, ist fürchterlich. Jeder Quadratmeter ist kulturell besetzt, und wenn Leute nach Rom kommen, dann nicht, um moderne Kunst zu sehen. Berlin ist eigentlich fast das Gegenteil davon. Da ist praktisch noch alles Gegenwart. Da ist noch so viel Platz, so viel Unfertiges, so viel Unschönes auch. Da kann man sich abarbeiten, da hat man auch Luft.

Ulrich Wickert: „Orangen und Engel“ heißt Ihr neues Buch – wie halten Sie es mit den Engeln?

Schulze: Die Engel sind so bedeutsam, weil sie ständig in unserem Alltag aufkreuzen. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber natürlich gibt es Begriffe, Projektionen, die auch eine Wirklichkeit haben und etwas beschreiben, was in uns ist, dich aber in unserem Alltag nicht so erfüllt. Und dann gibt es solche engelhaften Momente und Erscheinungen: Epiphanien, aber im profanen Sinne. Diese alltäglichen Dinge, bei denen man eines Wunders innewird; des Wunders, dass es uns gibt, dass es diese Welt gibt.

Ulrich Wickert: Die beiden Engel aus Ihrer Titel-Erzählung stammen aus Neapel. Man kann sie auseinander nehmen.

Schulze: Das sind diese berühmten neapolitanischen Weihnachtsfiguren, und für mich war es etwas Wunderschönes, in der Weihnachtszeit in Neapel zu sein, von einem Stand zum anderen zu gehen und da wirklich wahre Meisterwerke der Skulptur zu sehen, die so schön sind, dass man sagt: „Einen solchen Engel möchte ich haben“.

Ulrich Wickert: Beschreiben Sie mal die Geschichte „Augusto, der Richter“.

Schulze: Ein Ich-Erzähler, dessen Achillessehne beim Fußball gerissen ist, wie mir das auch passiert ist, geht bei seinem ersten Ausflug, als er wieder laufen kann, in den Supermercato und schwelgt darin, sich die Dinge selbst in den Korb legen zu können. Er merkt gar nicht, dass er das nicht nach Hause tragen kann, dass er ohne Auto da ist, dass er keinen Kinderbuggy dabei hat, an den er das anhängen kann. Und dann taucht plötzlich dieser Augusto auf, der irgendwie indisch aussieht, und der bietet ihm an, die Sachen nach Hause zu tragen. Auf dem Weg stellt sich heraus: Dieser Augusto stammt nicht aus Indien, sondern aus Rumänien, ist offenbar auch illegal da, kommt aus einer Gegend, Siebenbürgen, in der Deutsch gesprochen wird, und er kann Deutsch. Und nun unterhalten die beiden sich, und der Ich-Erzähler bemerkt an ihm Verletzungen, die ziemlich schlimm sind, Bisse. Augusto zeigt ihm diese Verletzungen auch am Rücken und an den Beinen. Und nun fängt er an, diese Geschichte zu erzählen: Dass er als Träger sehr viel erlebt und von einer sehr schönen Dame angeheuert wurde, Sachen nach Hause zu tragen, und das macht er auch. Zu Hause sind drei Frauen verschiedenen Alters, und die feiern ein Fest, was aber immer makaberer wird. Und er wird zum Richter berufen, zu einem Richter über die tänzerischen Fähigkeiten der Leute. Das hat auch etwas sehr Gewalttätiges, es wird immer gewalttätiger.

Ulrich Wickert: Es kommt zu einer Orgie. Nachher klaut Augusto möglicherweise Geld. Gibt es ihn wirklich?

Schulze: Es gibt diese illegalen Einwanderer, die im Supermarkt stehen und die einem die Einkäufe in Tüten packen und einem auch noch nach Hause tragen. Ich habe zwar nie etwas von jemandem nach Hause getragen bekommen. Aber ich las die Neuübersetzung von „Tausendundeine Nacht“, und da geht es um eine Geschichte von einem Träger, und da konnte ich etwas hineinbringen von dem, was ich sah. Für mich hatte das sehr viel mit Italien zu tun.

Ulrich Wickert: Inwiefern hat es Ihnen Neapel angetan?

Schulze: Neapel war für mich eine unvergleichliche Stadt. Sie gehört noch zu unserer Welt, aber am ganz anderen Ende. Diese Stadt hat eine ungeheure Dichte und Konzentration von Kultur. Anderseits auch immer wieder diese Schönheit, diese Weite des Blicks: Man dreht sich um und guckt über den Golf und dieses Leben unter dem Vulkan. Der Vesuv ist ja nichts Historisches. Man möchte immer sagen: Das war einmal ein Vulkan – aber er ist es ja noch immer. Überhaupt kommt in Neapel so viel zusammen. Man weiß ja auch Bescheid über die Kriminalität, über die Mafia, über die Korruption, die Müllberge; das ist alles da, und andererseits habe ich den Eindruck, dass die Leute, mit denen ich es da zu tun hatte, eine große Reife besitzen, weil sie so viele Gegenkräfte gegen diese Misslichkeiten entwickeln müssen.

Ulrich Wickert: Ihr Stipendium wird vom Bund bezahlt, vom Kulturstaatsminister in Berlin. Hatten Sie keine Bedenken, Geld vom Staat zu nehmen?

Schulze: Na ja, ich bin ja auch selbst Steuerzahler. Ich finde es großartig, wenn sich eine Gesellschaft so etwas leistet und sagt: Wir ermöglichen es unseren Schriftstellern, Musikern, Architekten, Anregungen zu bekommen, und wir verlangen im Prinzip überhaupt nichts dafür. Aber wir haben alle gearbeitet wie die Heftelmacher. Man hofft natürlich, dass man mit dem, was man macht, etwas zurückgibt.

Ulrich Wickert: Es ist nicht das erste Mal, dass ein Buch von ihnen zusammen mit künstlerischen Abbildungen veröffentlicht wird. Vor acht Jahren erschien eine Erzählung aus und über New York mit Steindrucken der Geraer Künstler Erik Buchholz und Kay Vogtmann. Jetzt arbeiten Sie mit Matthias Hoch zusammen. Zeichnen Sie auch selber?

Schulze: Oh nein! Ich würde das gern können, denn ich denke, gerade wenn man beispielsweise durch Italien reist, sollte man sich hinsetzen und wirklich einmal versuchen, diese oder jene Fassade abzuzeichnen. Nicht mit einem zu hohen Anspruch, sondern damit man einfach mal genauer hinschaut. Man kann das Gebäude natürlich auch zu beschreiben versuchen. Höchstens in so einem Kontext wäre das Zeichnen für mich bedeutsam, aber ich versuche doch, bei meinen Leisten zu bleiben, und lasse es.

Ulrich Wickert: Ist der schöpferische Akt des Malers vergleichbar mit dem des Schriftstellers?

Schulze: Ich glaube schon. Jeder, der vor einem weißen Blatt sitzt, fragt sich ja: Wie schreibe ich das jetzt? Jeder macht doch die Erfahrung, plötzlich fließt einem was aus der Feder, plötzlich kann man jemandem was sagen, weil der- oder diejenige zuhört. Bei anderen ist man „zu“ und kriegt kein Wort heraus. Das ist eigentlich das Problem, vor dem ein Schriftsteller, ein Komponist oder ein Maler steht, und das hat ja jeder auch mehr oder minder in seinem Alltag, wenn er versucht, sich einem anderen mitzuteilen.

Ulrich Wickert: Eugène Ionesco hatte in seiner absurden Schreibstube eigentlich nur eine Couch und sagte sich: Da lege ich mich drauf, und irgendwann kommen mir die Ideen, und die diktiere ich dann meiner Sekretärin. Wie verhält sich das bei Ihnen mit der Inspiration?

Schulze: Bei mir funktioniert das nicht ganz so. Bei mir passiert das Meiste, wenn ich versuche, Sätze aufs Papier zu bringen. Natürlich muss man irgendeinen Ansatzpunkt haben. Einen Anfang, einen Satz. Ich mache aber auch oft die Erfahrung, dass in dem Moment, wo man die Arbeit beendet, plötzlich noch etwas passiert, dann, wenn man sich nicht mehr in der Phase der Hochkonzentration befindet, sondern eher in einem Zwischenreich. Das hat dann durchaus etwas von Ionescos Dämmerzustand. Und plötzlich merkt man am nächsten Morgen: „Es“ hat für einen gedacht. Es ist etwas passiert. Dann fragt man sich ganz verwundert: Nanu, wieso weiß ich das denn jetzt?