Artikel von mir
„Und ewig lockt la douce France“
30.04.2011, Die Welt
Alex Capus hat es auf die Bestsellerliste geschafft. Mit Ulrich Wickert sprach er über seinen neuen Roman „Léon und Louise“
Ulrich Wickert: Sie haben etwas sehr Mutiges getan. Sie haben mit „Léon und Louise“ einen wirklichen Liebesroman geschrieben. In der ersten Szene des Buchs tritt Louise an den Sarg von Leon. Er ist rund 85 Jahre alt geworden. Als die beiden sich kennen lernten, war er 17. Die wechselseitigen Schicksalsschläge, der Erste und später der Zweite Weltkrieg trennen das Paar auf Jahre, aber am Ende – Léon ist vielleicht 60 Jahre alt – stehen die Sätze: „Sie gingen an Bord, verstauten die Vorräte in der Kabine und starteten den Motor. Dann machten sie die Leinen los, legten ab und fuhren aus dem Hafenbecken hinaus auf die Seine und flussabwärts dem Ozean entgegen.“
Alex Capus: Fehlt nur noch der Sonnenuntergang zum Happyend, gell?
Ulrich Wickert: Und eine Träne.
Alex Capus: Die steht ja am Anfang, bei der Bestattung des Helden. Am Schluss sind alle tot. Jede Geschichte endet so. Insofern ist jedes Happyend nur ein vorläufiges.
Ulrich Wickert: Wir sollten verraten, dass Sie in Frankreich geboren wurden – von einer Schweizer Mutter und einem französischen Vater. Und die Geschichte von Léon und Louise ist die Geschichte Ihres französischen Großvaters. Wie haben Sie davon erfahren?
Alex Capus: Das war ein großes Geheimnis in der Familie, über das alle Bescheid wussten. Sehr katholisch, so etwas, auch sehr französisch. Alle wussten, dass mein Großvater eine Herzensfreundin hatte, aber man sprach nicht drüber. Wenn ich später meinen Großvater, als der schon Witwer war, besuchen wollte, habe ich immer gefragt: „Ist es in Ordnung, wenn ich nächste Woche komme, Großvater?“ Und dann hat er gesagt: „Ja, ja, mein Kleiner, du kommst, wann du willst, aber bitte nicht dienstags und donnerstags.“ Das hat gereicht. Da wusste man, dass dann Louise zu Besuch war.
Ulrich Wickert: Wo lebte der Großvater?
Alex Capus: In der Rue des Écoles Nr. 14. Das ist eine Querstraße zum Boulevard Saint Michel im Quartier Latin von Paris. Diese Adresse spielt eine wichtige Rolle in meinem Buch, weil es über Jahrzehnte auch die Wohnadresse meines Helden ist. Mein Großvater war auch, wie mein Held, Polizeichemiker am Quai des Orfèvres, wo Kommissar Maigret seine Zentrale hatte.
Ulrich Wickert: Wer war Louise?
Alex Capus: Die große Abwesende. Ich habe sie nur einmal gesehen, als alte Frau, ich beschreibe das im Eingangskapitel von der Bestattung meines Großvaters.
Ulrich Wickert: Die Liebe beginnt in der Normandie. Sie selber sind in einem kleinen Ort der Normandie geboren. Zufall?
Alex Capus: Bestimmt nicht. Ich kenne diese kleinen Orte in der französischen Provinz sehr gut. Das ist „la douce France“, das sanfte, liebliche Frankreich, ein Sehnsuchtsort für fast alle Europäer.
Ulrich Wickert: Die Liebe von Léon und Louise währt ein Leben lang. Was macht die Beständigkeit dieser Liebe aus?
Alex Capus: Auch die geografische Distanz, die sich die Liebenden über Jahrzehnte auferlegen müssen. Ansonsten gibt es ja einen Zauber in der Liebe, den auszubuchstabieren ich mich hüten würde, weil man ihn damit zerstört.
Ulrich Wickert: Liebt Léon auch seine Frau Yvonne?
Alex Capus: Natürlich. Die beiden bleiben ein Leben lang beisammen. Sie sind einander treu ergebene loyale Gefährten. Das kann man nicht anders als Liebe nennen.
Ulrich Wickert: Was ist anders in der Liebe von Léon zu Yvonne?
Alex Capus: Nun, die beiden haben Kinder gehabt, eine Wohnung geführt, ihren Lebensunterhalt verdient, allen möglichen Widerwärtigkeiten getrotzt, zwei Weltkriegen, der Weltwirtschaftskrise. Sie haben wirklich etwas zusammen getan. Darin bestand ihre Liebe.
Ulrich Wickert: Sie haben eben von „la douce France“ gesprochen. Was bedeutet das für Sie?
Alex Capus: Zunächst einmal das Frankreich meiner frühen Kindheit, auch das Paris meiner frühen Kindheit, das es nicht mehr gibt. Paris sieht zwar optisch immer noch aus wie in den frühen 60er-Jahren, aber ansonsten hat es sich geändert. Mein Paris war das Paris der kleinen Leute, die im Stehcafé um die Ecke noch einen Pastís tranken, den sie sich leisten konnten. Diese kleinen Leute sind heute alle weg. Ich habe ja auch keine Verwandten mehr innerhalb der Stadtgrenzen. Die sind alle rausgespült worden in die Banlieues, weil die Stadt dermaßen teuer geworden ist, dass nur noch internationale Schickimickis sich Paris leisten können.
Ulrich Wickert: Wie lange haben Sie in Frankreich gelebt?
Alex Capus: Die ersten fünf Jahre meines Lebens. Dann sind wir, nach der Scheidung meine Eltern, in die Schweiz gezogen mit meiner Mama. Die war Grundschullehrerin, deren Lehrerinnendiplom in Frankreich nicht anerkannt wurde.
Ulrich Wickert: Haben Sie immer noch einen intensiven Bezug zu Frankreich?
Alex Capus: Ja, ich habe eine Menge Verwandtschaft da und fahre alle zwei, drei Monate hin.
Ulrich Wickert: Ihr Léon ist Polizeichemiker am Quai des Orfèvres. Dann gelangt er aber auch noch während des Zweiten Weltkriegs in den Widerstand, indem er bewusst gewisse Fehler macht. Gab’s so etwas auch in Ihrer Familie?
Alex Capus: Das gab es wohl in jeder französischen Familie – irgendwo zwischen beinharter Résistance und windelweichem Opportunismus.
Ulrich Wickert: Die Familie spielt in Frankreich eine andere Rolle als bei uns.
Alex Capus: Oh ja. Der Franzose hat ein großes Bedürfnis nach bürgerlicher Privatheit und Intimsphäre. In deutschen oder auch deutsch-schweizerischen Kneipen ist es üblich, dass man mit Fremden an langen Tischen sitzt. Ein Franzose würde sich eher vierteilen lassen, als so was zu tun. Man bleibt für sich. Die Familienbande haben dann eine umso größere Bedeutung. Hingegen kann es passieren, dass man zwanzig Jahre in Paris arbeitet und eigentlich niemanden kennenlernt außerhalb des Büros.
Ulrich Wickert: Das schildern Sie bei Léon und Louise auch. Léon lebt ja ganz stark in seiner kleinen Familie in der Rue des École.
Alex Capus: Und er flieht auch einmal jährlich oder zweimal, wie jeder Pariser, aufs Land.
Ulrich Wickert: Léon ist ein bisschen brav und bieder, eigentlich ein Antiheld.
Alex Capus: Ja. man kann auch sagen ein unauffälliger, bescheidener Mensch. Aber ich wollte ihn auch nicht extravagant. Ich wollte nicht den tollen Hecht aus der klassischen Dreiecksgeschichte, der zwei Frauen abwechselnd leiden macht. Ich wollte im Gegenteil eine Geschichte von Loyalität und Beisammenbleiben und von Anstand, Würde, Respekt und all diesen altmodischen Dingen schreiben.
Ulrich Wickert: Bevor Sie Schriftsteller wurden, haben Sie als Journalist gearbeitet. War das eine gute Schule?
Alex Capus: Ich war bei einer Nachrichtenagentur und habe die Arbeit dort sehr gern gemacht. Da geht’s einfach drum, Fakten zu transportieren. Ich finde, das ist eine sehr ehrbare Art von Journalismus, die wichtigste sogar. Und dann habe ich nebenbei Kurzgeschichten geschrieben, im Eigenverlag herausgebracht und in der Kneipe verkauft. Von da an nahmen die Dinge ihren Lauf. Plötzlich sollte ich für einen großen Verlag einen Roman schreiben. Und seither schreibe ich halt ein Buch ums andere und zwar mit großem Vergnügen.
Ulrich Wickert: Was treibt Sie zur Kurzgeschichte?
Alex Capus: Die Intensität. Der Vorhang geht kurz auf. Dann geht er wieder zu. Und man muss auf zehn, sagen wir zwanzig, dreißig Seiten ein ganzes Drama entwickelt haben, ein ganz schlankes ohne Speck. Und da muss jeder Satz sitzen. Da darf kein Wort zu viel sein. Das muss in der Konstruktion einfach richtig sein. Bei einem Roman hat man mehr Auslauf. Da kann man sich mal was gönnen. Die Kurzgeschichte erträgt das nicht, ist eigentlich viel schwieriger, finde ich.
Ulrich Wickert: Haben Sie Vorbilder – Raymond Carver, Hemingway?
Alex Capus: Ja. Tschechow haben Sie vergessen. Den lese ich eigentlich ununterbrochen.
Ulrich Wickert: Sie sind in Olten in der Schweiz, wo Sie wohnen, Präsident der Sozialdemokratischen Partei, die bei ihrem letzten Parteitag in Lausanne die Überwindung des Kapitalismus beschlossen hat. Ist das nicht in der Schweiz ein wenig kühn?
Alex Capus: Es ging damals natürlich ein Aufschrei durch die Schweiz, als ob das so skandalös wäre. Aber was heißt „Überwindung des Kapitalismus“? Was heißt „Kapitalismus“? Das ist doch letztlich die Herrschaft einiger ganz weniger, die alles Geld haben, über alle anderen. Wenn man als Demokrat dafür ist, dass ein System überwunden wird, in dem nur die Reichen etwas zu sagen haben, wo soll da der Skandal liegen?
Ulrich Wickert: Haben Schriftsteller eine besondere politische Verantwortung?
Alex Capus: Das weiß ich nicht. Ich habe im Zweifelsfall nichts Gescheiteres zu sagen als jeder andere Mensch, der zufällig neben mir in der S-Bahn sitzt. Aber ich habe vielleicht mehr Zeit, mir darüber Gedanken zu machen und die Dinge reifen zu lassen. Und dann ist es ja auch mein Beruf, die Dinge insgesamt aus einer gewissen Distanz zu betrachten.
Ulrich Wickert: Und Sie haben als Schriftsteller die Fähigkeit, sich zu artikulieren.
Alex Capus: Aber für meine Arbeit als Romanschriftsteller ist es nicht gut, wenn ich von einer abstrakten politischen Idee oder von einer Ideologie ausgehe und diese zu illustrieren versuche, indem ich einen Roman dazu schreibe. Das ist die beste Methode, um einen wirklich schlechten Roman zu schreiben.